Hier die mittlere Farb-CD des Quartetts, die beim Leipziger Label GENUIN erschien.
Nach "White" mit Streichquartetten Joseph Haydns und Anton Weberns 2012 hat das Amaryllis Quartett auch unter dem Titel "Red" eine Kombination der Wiener Klassik und der Zweiten Wiener Schule vorgelegt. Ludwig van Beethovens op. 131 (cis-Moll), eines der letzten Quartette und Werke, im Vorjahr seines Todes entstanden, wird durch Alban Bergs op. 3 des noch jungen Komponisten ergänzt. Mit einer Spieldauer von fast vierzig Minuten und sieben Sätzen sprengt Beethovens Quartett sowohl in der Größe als auch der Anlage alles bis dahin dagewesene. Dabei steht der vierte Satz sowohl in der Reihung als auch Gewichtung an zentraler Stelle, während andere (drei und sechs) sehr kurz ausgefallen sind und (nicht unwichtige) Überleitungen darstellen. Dazu kommt, daß Beethoven das Stück ohne Unterbrechung zu spielen vorgibt – ein anspruchsvolles Unterfangen, nicht nur an Spieler und Zuhörer, bedenkt man die Instrumente zu Beethovens Zeit, deren Darmsaiten sicherlich vor dem siebenten Satz Nachstimmbedarf hatten. Mit modernen Instrumenten ist man dieses Problems enthoben, die (theoretische) Möglichkeit, die Durchgängigkeit einer Aufnahme am Schneidetisch zu vervollkommnen, sei einmal dahingestellt.
Das Amaryllis Quartett wird in seiner zweiten CD den hohen Erwartungen nach dem preisgekrönten Vorgänger gerecht. Sauber, präzise, durchdacht, ausgewogen klingen die vier Streicher – hier ist jede Rolle perfekt einstudiert und ihm harmonischen Gleichklang verankert. Dabei ist die Aufnahme vergleichsweise "nüchtern" und "schlank" geraten, was viele Details hervorbringt. Nichts wird durch emotionalen Überschwang betont, der dramatische "Bogen" paßt. Das cis-Moll-Quartett ist keineswegs ein düsteres Abschiedsstück, sondern verzichtet im Gegenteil nicht auf heitere Stimmung. Dennoch überwiegen nachdenkliche, rückblickende Elemente, welche bei Amaryllis jedoch nicht in Tristesse versinken, sondern zwischen Kopf und Herz gut ausbalanciert sind.
Beethovens Werk vorangestellt ist das etwa 85 Jahre später entstandene Quartett Alban Bergs. Keinesfalls so extrem wie der Wiener Klassiker entspricht es aber mit nur zwei etwa gleichlangen Sätzen auch nicht der "Norm". Unter der Aufsicht Arnold Schönbergs entstanden, sollte das Werk aber niemanden abschrecken oder dazu verleiten, die Aufnahme gleich "vorzuspulen". Im Gegenteil: die luzide Spielweise des Amaryllis Quartetts bringt das Werk auf spannende, reizvolle Weise näher, macht neugierig und bereichert.
Vor allem in bezug auf Beethoven sei noch darauf hingewiesen, daß auch der Geschmack bekanntlich einem Wandel unterworfen ist. Werke wie das cis-Moll-Quartett wurden oft aufgenommen, so daß man unterschiedliche "Moden" der Aufführung vergleichen kann. Die ältere Aufnahmen, etwa des Gewandhaus-Quartetts (Mitte der neunziger Jahre), des Suske-Quartetts (1980) oder des Amadeus-Quartetts (Anfang der sechziger Jahre) erscheinen voller, runder, "saftiger", je weiter man in der Zeit zurückgeht, wobei auch die technische Realisierung der Aufnahmen zu diesem Eindruck beiträgt. Darüber hinaus sind aber auch Quartette spürbar der Mode unterworfen, den Kammerton a heutzutage höher zu stimmen als etwa noch 1960. Interessant – aber unmöglich – wäre es zu erfahren, was das Publikum früherer Jahre zum Beispiel zur Amaryllis-Aufnahme sagen würde. Heute können wir vergleichen – tun Sie's!
Wer derart in den Aufnahmen herumstöbert und sich gerne anregen läßt, dem sei noch der Film "Die Saiten des Lebens" empfohlen (2013 auf DVD erschienen). Im Mittelpunkt stehen hier vor allem die menschlichen Belange der Mitglieder eines Quartetts (unter anderem Philip Seymour Hoffman und Christopher Walken), das sich mit Beziehungen, aber auch mit Krankheit und Alter auseinandersetzen muß. Beethovens op. 131 steht dabei im musikalischen Zentrum, ebenfalls mit dabei: Anne Sofie von Otter.
Zuletzt hat das Amaryllis Quartett die CD "Green" vorgelegt, diesmal mit Quartettwerken Robert Schumanns und György Kurtágs.
Wolfram Quellmalz