Axel Köhler ist nach einer internationalen Karriere als Countertenor seit 2000 auch als Opernregisseur tätig und hat seither zahlreiche Operninszenierungen an bedeutenden Häusern vor allem in Deutschland und Österreich realisiert. Seit 2009 war er Intendant der Oper Halle. Aufgrund der drastischen Sparauflagen der Anhaltinischen Landesregierung gegenüber der Oper Halle hatte Köhler es abgelehnt, seinen bis 2016 laufenden Vertrag zu verlängern. Aron Koban hatte Gelegenheit, mit ihm über die Situation im derzeitigen Opernbetrieb zu sprechen.
Herr Köhler, was ist für Sie »Oper«?
Oper ist die komplexeste Art von darstellender Kunst: Drama und Musik. So viele Leute wie man im Musiktheater auf und hinter der Bühne, im Orchestergraben und überhaupt interagierend beschäftigt, gibt es bei keiner anderen Kunstgattung. Und man vergegenwärtige sich: da steht jemand auf der Bühne, der eine Figur in einer dramatischen Situation darstellt und einfach singt und das ist ganz direkt zu hören und es füllt das ganze Haus! Und es werden Emotionen freigesetzt! Das ist immer aufs Neue ein ganz unglaubliches Ereignis.
Was sollte die Oper oder ein Opernbetrieb heutzutage leisten?
Das Genre Oper bietet dadurch, dass es so weit weg von der „Realität“ zu sein scheint, besonders gute Möglichkeiten der Abstandnahme und der Reflexion. Und zwar nicht unbedingt zu tagespolitischen Fragen, sondern bezogen auf die Problematiken, die Menschen seit jeher haben und immer haben werden. Das sind größere Felder, die beackert werden müssen. Ich finde es falsch, wenn Oper zu sehr auf tagespolitische Dinge abhebt.
Was ist daran schlecht?
Das wird dann meistens irgendwie klein und ein bisschen funktional. Ich denke, Oper sollte wie ein emotionales Training funktionieren: dass man sich erreichen lässt, sich berühren, aufwühlen lässt, dass man verschüttete Seiten an sich entdeckt. Die Oper ist mit ihrer großen Kraft, mit dem Drama und der Musik in der Lage, alles dieses Verschüttete innerhalb kurzer Zeit freizulegen. Diese emotionale „Reinigung“ halte ich für absolut essentiell. Wenn wir keine Oper, wenn wir diese Interaktion zwischen Schauspiel und Musik nicht mehr hätten, dann würden die Menschen verflachen und verrohen. Davon bin ich überzeugt.
In Halle sind auch einige Operetten im Spielplan, das klingt zunächst nicht nach großer Reflexion und emotionalem Training. Müssen denn Zuschauer heute immer mehr mit leichter Kost in die Häuser geholt werden?
Gerade in einem Stadttheater wie in Halle kann und sollte man nicht auf die sogenannte „leichte Kost“ verzichten. Es muss eine Mischung geben: Musical und Operette sind wichtige Säulen des Spielplans.
"Kultur wird zunehmend als Servicebetrieb angesehen"
Was sind die anderen? Uraufführungen? Oder die Pflege Alter Musik?
In Halle haben wir die Händel-Festspiele, also ist die Pflege barocker Opern eine weitere Säule des Spielplans. Auf dieser Basis können wir dann ab und zu auch andere, weniger gängige Projekte realisieren, wie etwa eine Uraufführung oder letztens eine Produktion von Henzes „Phaedra“. Natürlich ist das Haus dann vielleicht nicht ganz voll, aber die Menschen, welche sich für dieses Genre interessieren haben mit ihrem kulturellen Anspruch ebenso wie alle anderen ein Recht darauf, von der öffentlichen Hand versorgt zu werden. Und dann muss man versuchen, solche Stücke so interessant wie möglich auf die Bühne zu bringen, damit das Haus auch überregional zur Geltung kommt.
Sind Uraufführungen wichtig für das Renommee eines Theaters?
Prinzipiell ja, aber ich glaube, die Funktion eines Musiktheaters in einer Stadt beschränkt sich nicht allein auf das, was abends auf der Bühne passiert. Ein Theater ist wie die Nase im Gesicht einer Stadt. Man sieht es von weitem und es erzählt etwas über den kulturellen Anspruch der Menschen, die dort leben, und der gewählten Politiker. Wenn ein Spielplan verflacht und man nur noch Mainstream zu sehen bekommt, dann ist es ein Unterhaltungswerk. Aber dann kann man auch Fernsehen gucken. Deshalb ist es wichtig, dass man Spitzen hat, die ein Alleinstellungsmerkmal für ein Haus sind. In Halle ist das eben die Händel-Pflege neben regelmäßigen Uraufführungen.
Wie würden Sie die Situation des derzeitigen Opernbetriebs einschätzen?
Da gibt es Tendenzen, die nicht erfreulich sind. Kultur wird zunehmend als eine Art von Servicebetrieb angesehen. Es geht, wie beim Fernsehen, mehr und mehr um Quote. Und es besteht der Irrtum zu glauben, Stücke die voll sind, sind prinzipiell gut. Das muss nicht so sein. Vielleicht treffen sie nur einen bestimmten Nerv, oder sind Mainstream. Der Umkehrschluss ist das eigentlich Fatale: Stücke die nicht voll sind, sind schlecht. Das stimmt einfach nicht.
Ist das nicht eine Frage der ästhetischen Bildung?
Richtig, aber mit dem „Bildungsbürgertum“ ist das eben so eine Sache… Viele haben mit ihrem Beruf zu tun, um das „normale“ Leben zu bewältigen. Da gibt es weniger Muße, sich auf Dinge einzulassen, die nicht hundertprozentig etwas mit dem direkten Leben zu tun haben: ein Buch zu lesen, sich geschichtlich zu bilden, größere Zusammenhänge versuchen zu erfahren, einen Abstand zum Alltag zu gewinnen. Das kostet immer mehr Kraft und auch immer mehr Geld.
Wie reagieren die Opernhäuser darauf?
Indem wir versuchen, entsprechende Spielpläne zu bauen. Man muss natürlich unbedingt Populäres wie eine „Carmen“ oder einen Puccini dabei haben. Unbekannteres Repertoire hat es dagegen zunehmend schwerer: Wenn man z.B. einen Debussy bringen will, oder mehrere unbekannte Stücke aus der klassischen Moderne, z.B. Korngold oder Schrekers „Der ferne Klang“ produzieren wollte, würde man damit nicht durchkommen, selbst wenn das die wunderbarsten Stücke sind.
Viele Kulturinstitutionen sind immer mehr in Geldnot. Was bedeutet das für den Opernbetrieb?
Das ist wie eine Zwinge, die immer mehr zugeht: Alles wird immer teurer, die Tarife müssen angepasst werden; auf der anderen Seite wachsen die Zuschüsse der öffentlichen Hand nicht in gleichem Maße mit, sondern es wird im Gegenteil seit Jahren immer mehr gespart und gedeckelt. So wird der Aktionsraum von beiden Seiten gedrückt. In Halle sind wir inzwischen schon so weit, dass wir 136 Stellen bis 2018 abbauen müssen, allein 60 in dieser Spielzeit. Das geht durch sämtliche Gewerke, und macht weder vorm Chor, noch vorm Ballett noch vor den Werkstätten halt.
»Die Tendenzen sind nicht erfreulich«
Aber der Anspruch soll derselbe bleiben?
Die Qualität soll bleiben, aber auch die Quantität, und das kann auf Dauer natürlich nicht gehen. Meiner Meinung nach sollte man die Qualität retten und dafür weniger spielen. Ich sehe sonst keinen anderen Weg, wenn man das Theatersystem erhalten möchte. Dann gibt es auch immer wieder diese unseligen Diskussionen: jeder Opernplatz kostet am Abend so und so viel an öffentlichen Zuwendungen. Darauf kann ich nur sagen: Ja, aber dann nehmt sie doch in Anspruch! Und kauft Euch eine Karte! Denn diese öffentlichen Zuwendungen haben gesellschaftlich einen tiefen Sinn.
Ist eine Trennung zwischen sogenannter E-Musik und U-Musik für Sie heute noch zeitgemäß?
Nein, daran habe ich nie festgehalten. Ich denke, es gibt gute und schlechte Musik. Wenn ich eine »Westside Story« im Programm habe, dann ist das einfach ein tolles Musical. Das hat einen guten Stoff, der immer aktuell bleibt. So etwas gehört in den Spielplan. Die Ähnlichkeit eines solchen Musicals zu Popmusik, die jüngere Leute, die sonst gar nicht ins Theater gehen, schneller erreicht als z.B. ein schwerer Verdi, ist freilich viel größer. Ich denke, es stimmt auch nicht, dass Leute, die drei mal im Musical waren, dann beim vierten Mal in die Oper gehen. Das glaube ich einfach nicht. Das ist etwas völlig Verschiedenes, obwohl beides auf der Bühne stattfindet.
Was tun Sie als Intendant, um junges Publikum in die Oper zu bekommen, oder für die Oper zu gewinnen?
Das ist eine wichtige Aufgabe von Stadttheatern: den Nachwuchs heranzuziehen, nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum. Ich denke, dass integrative Projekte und Institutionen auf diesem Gebiet wichtige Vermittlung leisten können. An der Oper in Halle haben wir z.B. einen Kinder- und Jugendchor gegründet, der inzwischen 80 Mitglieder hat. Viele waren zunächst skeptisch, ob überhaupt jemand kommen würde. Aber das Angebot, dass sie von Mitgliedern des Opernensembles szenischen Unterricht bekommen, dass Stimmbildung vom Chordirektor erfolgt, und dass sie an großen Projekten beteiligt werden, von »Carmen« über »Pique Dame« und »Peter Pan« bis zum Musical »Dreizehn«, das sie ganz allein gemacht haben, bei dem kein Erwachsener auf der Bühne war, das alles hat die Kinder fasziniert. Und jetzt kann man sehen, dass diese Jungen und Mädchen, wenn sie herangewachsen sind, anfangen, bei uns Praktika zu erfragen, Oma, Opa, Onkel, alle mit herbringen und vom Theater nicht mehr lassen können. Das ist z.B. ein Weg. Und wenn es, wie bei uns, gelingt, ist das sehr schön anzusehen!
Vielen Dank für das Gespräch!