Feuchtfröhlicher Dirigentenstabwechsel beim Leipziger Gewandhausorchester: Andris Nelsons scheint in Leipzig schon angekommen zu sein, obwohl die Reise noch gar nicht richtig gestartet ist. Das lässt hoffen.
Der künftige Gewandhauskapellmeister ist schon lange nicht mehr „der Neue“. Andris Nelsons, der dieses Amt ab der Saison 2017/18 übernehmen wird, verbindet bereits eine fünfjährige Zusammenarbeit mit dem Leipziger Klangkörper als Gast und Gastspielpartner.
Der bisherige – und eigentlich auch noch jetzige – Gewandhauskapellmeister jedoch scheint schon als „der Ehemalige“ abgestempelt zu sein. Dabei stehen seine Abschiedskonzerte erst noch bevor (16., 17. und 19. Juni). Eine kleine und letzte Konzertserie, die der Italiener hoffentlich nicht auch noch absagen wird, wie er es zuvor schon aus mancherlei Gründen mit einigen anderen Konzerten getan hat. Einmal mehr will er sich dann Gustav Mahler widmen und – nach seinen sehr erfolgreichen Einspielungen fast (!) aller Sinfonien des Meisters mit dem Gewandhausorchester beim Leipziger Label Accentus Music – dessen Dritte Sinfonie aufführen. Wobei ihm die Bemerkung wichtig ist, dass sie in strahlendem Dur endet. Ein Ende „im Triumph“, das der Maestro gern als „wunderbares Schlusswort“ sehen mag.
Unvergessen ist sein Antrittskonzert mit Mahlers Siebter. Laut Chailly mit einem D-Dur-Finale als „Totschlagargument, ein Fallbeil, aggressiv und böse.“ Ein begeistertes Publikum gab es damals dennoch, das im Anschluss zum Sektempfang eingeladen worden ist – und in Gesprächen mit Orchestermusikern zu hören bekam: „Der kocht auch nur mit Wasser.“
Ja womit denn sonst? Hatte man sich von einem italienischen Chefdirigenten ernsthaft versprochen, dass er einen Barolo erhitzt? Einen Brunello wogar? Welche Kostbarkeiten sollte dann jetzt der Lette Andris Nelsons auffahren, der seit 2014 Chef des Boston Symphony Orchestra ist und in diesem Posten jetzt schon bis ins Jahr 2022 hinein verlängert worden ist?
Er gab seinen Einstand in Leipzig als Gast bereits 2011, als Chailly sich nach und nach rar machte, tourte mit den Bostonern wiederholt im Gewandhaus und jüngst auch in der Dresdner Semperoper (wo er übrigens das erste Konzert nach seiner Leipziger Ernennung mit der Sächsischen Staatskapelle bestritt).
Riccardo Chailly, der gebürtige Mailänder, ist wohl nie recht warm geworden mit dem „Klein-Paris“ an der Pleiße. Zunächst als Gewandhauskapellmeister und Generalmusikdirektor der Oper angestellt, überwarf er sich alsbald mit dem Musiktheater vis-à-vis des Neuen Gewandhauses und zog sich 2008 von diesem Posten nach nur einer leidlich geratenen Premiere zurück. Was nicht zuletzt Ausdruck der seinerzeit reichlich ahnungslosen Kulturpolitik war, die einen Opernintendanten Henri Maier mit einem Chefregisseur Peter Konwitschny und eben dem GMD Riccardo Chailly in ein Boot setzen wollte. Diese Besatzung, das hätte man wissen müssen, war von vornherein zum Untergehen verurteilt. Allerdings ist daraus ein sehr teueres Geldversenken geworden. Kulturdezernent Georg Girardet und Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee, der wenig später auch als Bundesverkehrsminister kräftig versagte, sei noch nachträglich Dank.
Aber Leipzig lernt. Nach der Amtsverlängerung bis 2020 hat man sich die Auswahl der Chailly-Nachfolge nicht leicht gemacht. Der Italiener kündigte seine Zusammenarbeit mit dem Orchester bereits zur laufenden Spielzeit auf und ließ sich mit Wirkung ab Dezember 2015 als Nachfolger von Daniel Barenboim zum Musikdirektor der Mailänder Scala küren. Beim Amtsantritt mit Giuseppe Verdis „Giovanna d'Arco“ am Tag des Schutzheiligen San Ambrogio, dem 7. Dezember, blieb längst kein Zweifel mehr, dass Leipzig für ihn nur mehr Vergangenheit darstellt. Selbst die fest geplante Aufnahme von Mahlers Zehnter stand plötzlich in den Sternen und dürfte inzwischen – „Ich konzentriere mich auf die Scala (…) aber Leipzig steht nicht auf der Agenda“ – ad acta gelegt worden sein. Vom positiven Gegenteil ließen wir uns nur allzu gern überraschen.
Wird nun mit Andris Nelsons alles ganz anders? Sein dirigentisches Herangehen hat nichts mit dem von Riccardo Chailly zu tun, so viel steht fest. Der 1978 in Riga geborene Dirigent, der seine Musikerlaufbahn als Trompeter gestartet hatte, überzeugte mit Spielfreude und Hingabe ans Werk. In einem dramaturgisch genial konstruierten Programm überzeugte er das Leipziger Publikum jüngst mit Sexus, Liebe und Glauben, führte die Ouvertüre zu Wagners »Tannhäuser« auf, ließ ihr Vorspiel und Liebestod aus »Tristan und Isolde« folgen und schloss mit Bruckners Dritter Sinfonie in d-Moll. Keine Behauptung in „strahlendem“ Dur, die dann nicht mehr eigehalten wird. Statt dessen ein musikalisches Einvernehmen, das anhaltend zu werden versprach. Musikerworte: „Wir weinen dem Chailly keine Träne nach. Nicht eine einzige.“
Andris Nelsons scheint in Leipzig schon angekommen zu sein, obwohl die Reise noch gar nicht richtig gestartet ist. Das lässt hoffen.
Michael Ernst