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Von innen nach außen

Musik ist kein herkömmlicher Teil unserer Kultur: Als vielleicht einzige Kunstform ist sie immerhin in der Lage, alle Aspekte unseres Daseins auszuleuchten – was sie zu einem speziellen Spiegel der Kultur insgesamt macht. Wie falsch die Idee einer »Leitkultur« ist, wird daher sofort deutlich, wenn man sie auf die Musik anwendet. Jeder soll hören, was er hören will – und das er das letztlich auch tut, lässt ja seit jeher die Suche von Komponisten, Interpreten und Musikgeschäftsleute nach einem Muster, einem Schlüssel, einem Algorithmus scheitern: Es gibt schlicht kein Geheimrezept für klingenden Stoff, der berechenbar jene berührenden Wunderschwingungen im Hörergemüt zeugt, die eben nur Musik auszulösen im Stande ist. Es ist, als ob man vor einem Riesenhaufen Legosteine sitzt, etwas nach eigener Fantasie zusammensetzen möchte und dabei nach einer Bauanleitung fragt.

»Leitkultur« wäre so eine Anleitung – sobald man sie anwendet, verliert die Sache ihren eigentlichen Sinn. Musik ist nichts anderes als ein ständig neues Zusammensetzen bekannter, ansich belangloser Einzelbausteine zu faszinierenden Wunderwerken, und zwar aus der Interaktion mit der uns umgebenden Welt. Und zwar der gesamten. Kultur ist keine formende Hülle, sondern eine Ausprägung von Zusammenleben, die jeden Tag neu hinterfragt werden muss. Aus eigener Kraft stabil ist sie nur an den Stellen, an denen sie diese ständigen Nachfragen immer wieder überstanden, gemeistert hat. Musik nach Leitkultur bedeutet, den einstmals dreisten, frischen Walzerklang für dauerhaft frisch zu erklären – und dabei vergessen, dass er diese Frische nur aus einer damals aktuellen Dreistigkeit gewinnen konnte. Aus der Neuformung des Lebens heraus. Nicht umsonst ist alle Musik, die heute funktioniert, sich mit unserem Dasein spirituell und funktionell vermengt, ein Welt-Konglomerat. Afrika und Europa, Asien und Amerika, Trauer und Freude, Wut und Albernheit fließen dort zusammen mit dem Wunsch nach bizarrem Anderssein wie der Suche nach beständiger Geborgenheit. Ein Widerspruch, den Musik aushält, den Kultur aushält. Denn genau dazu ist sie da.

Musik, Kultur sind damit per se »Multikulti«. Da größte Missverständnis um diesen Begriff ist wohl, dass damit jedes beliebige Kombinationsdurcheinander aller vorhandener Legosteinen zum tollen Bauwerk erklärt werden solle. Jeder, der sich ein wenig mit Crossover beschäftigt hat, weiß: im Stilmix schlummert stets auch jede Menge Murks. Wildes Mischen ergibt noch keine frische Kultur. Aber, und das ist die eigentliche Idee dahinter: Nur die Möglichkeit der wilden Mischung gibt der Kultur Sinn. Nur dann bildet der Inhalt die Form. Die Musikgeschichte von Bach bis zu den Beatles ist dafür der beste Beweis. Die Sehnsucht nach einer Leitkultur, einer Leitmusik ist dabei natürlich verständlich: Man sucht im Freien, Offenen, was man benötigt – und will es dann fixieren. Den Effekt kennt jeder Jugendliche, der »seine« Subkultur, seine Spielwiese gefunden hat. Dann kommt der Drang, Muster ergründen, Gesetze festzurren zu wollen. Aus Angst vor der Vergänglichkeit von Kultur. Und diese ist ja real – aber auch unabdingbar. Denn die wirkliche Kultur kann nur aus sich selbst heraus stabil bleiben. Sie bewahrt sich selbst – in der Weitergabe einer Flamme. Die Idee einer beständigen »Leitkultur«, die nicht von allein weiterbrennen kann, ist dagegen das sprichwörtliche Anbeten der Asche.

Tim Hofmann
Der Autor ist Leiter des Ressorts Kultur der „Freien Presse“ Chemnitz

Martin Morgenstern
Foto: Martin Morgenstern

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