Ludwig Güttler, gern würde ich mit Ihnen kurz vor Ihrem 80. Geburtstag ein paar herausragende Aufnahmen aus Ihrem Trompeterleben Revue passieren lassen. Beginnen wir gleich mit einer der aufregendsten Einspielungen, 1985 erschienen. »Die Dresdner Hoftrompeten« hieß sie. »Unter altem Gerümpel«, schrieb der SPIEGEL damals, hatten Sie in Pillnitz die acht Instrumente in beklagenswertem Zustand entdeckt. Restauriert wurden sie in Leipzig von Friedbert Syhre. Wo sind diese Instrumente eigentlich heute?
Die sind damals gleich, wie es vereinbart worden war, an ihren Platz nach Pillnitz zurückgekommen. Sie haben einen ungeheuren Versicherungswert. Wir haben von Syhre aber auch gleich spielbare Nachbauten anfertigen lassen, die sind in unserem Privatbesitz. 36.000 Ostmark kostete das damals, und die Stadt Dresden war nicht bereit, diese Summe zu bezahlen. Kein Problem, sagte ich denen, da mache ich in der Bundesrepublik ein paar Benefizkonzerte!
Friedbert Syhre hat sich nicht nur mit diesen Rekonstruktionen, sondern auch mit Neuentwicklungen wie etwa dem »Corno da caccia« einen Namen gemacht.
Ja, die ersten Corni hat Friedbert Syhre mit mir und Peter Damm gebaut. Sein Sohn und er sind leider beide viel zu früh verstorben. Ich habe auch mit anderen Instrumentenmachern zusammengearbeitet, zum Beispiel mit Ricco Kühn aus Oederan. Der hatte alle meine Instrumente unter den Fingern, die b-Trompeten, C-Trompeten und die Piccolo-Hörner. Kühn hat nicht nur ein normales instrumententechnisches Bekunden; er ist tief in die Materie eingestiegen. Bis in die USA ist er mit den Hörnern gut auf dem Markt. Wenn die Kollegen Bedarf hatten, haben sie sich meiner Empfehlung nach an ihn gewandt.
Zurück zu den Hoftrompeten. Von welchen Instrumentenbauern wurden die damals eigentlich gefertigt?
Das Zentrum des Blechblasinstrumentenbaus war damals Nürnberg, dort saßen die besten Meister. Der Dresdner Hof hatte aber neben den Hoftrompetern auch immer einen Instrumentenbauer engagiert; ob die Vorbilder wohl trotzdem in Nürnberg gefertigt wurden? Einzelne Instrumente wurden jedenfalls von Christian Friedrich Riedel, Heinrich Leopold Shmey und Carl Gottlob Eschenbach Mitte des 18. Jahrhunderts gebaut.
Mit dem Corno da caccia mit Ventilen spielten Sie damals viele vergessene Konzerte neu ein und sorgten für eine regelrechte Renaissance dieser Literatur. Wie groß ist das Interesse heutiger Trompetensolisten an diesen Konzerten?
Das Interesse hat sich ständig ausgeweitet, bis dahin, dass heute fast jeder Instrumentenmacher auch Corni da caccia baut. Es ist gängige Spielpraxis geworden, die Instrumente zu verwenden, und es gibt sie inzwischen in allen möglichen Formen und Stimmungen und verschiedenen Material-Variationen. Ich spiele beispielsweise Varianten mit Schallstück und Schallkranz, es gibt drei- und vierventilige, die ganze Bandbreite ist zu beobachten.
Man mag es kaum glauben: Von Ihnen sind momentan auf dem Markt noch mehrere Dutzend Einspielungen erhältlich.
Ich glaube, es waren mal neunzig CDs am Markt. Heute sind nicht mehr alle im Handel, bei Edel sind ein paar vergriffen, aber die Auswahl ist immer noch groß, stimmt.
Edel hat ja auch bis vor kurzem immer wieder Neuauflagen älterer Studioaufnahmen herausgebracht, und Sie haben bei neueren Aufnahmen auch immer gern ein paar ältere Wiederveröffentlichungen auf die Platten geschmuggelt. Im Vergleich zu heutigen Einspielungen Alter Musik, die neuere Erkenntnisse zur Musizierpraxis nachzuempfinden sucht, klingen diese älteren Aufnahmen in meinen Ohren weicher, der Streicherklang ist sanfter und runder. Was haben Sie damals mit Ihren Ensembles für Klangideale verfolgt?
Wir haben nach keinem spezifischen Klangideal gesucht; eher könnte ich sagen, wir haben eine mögliche Durchhörbarkeit der Musik versucht, rüberzubringen, die Information, die in der Musik steckt, darzulegen. Die Kategorie hart oder weich hat dabei keine Rolle gespielt. Virtuos und klar sollte es klingen. Aber Sie haben schon recht, der heutige Dresdner Streicherklang ist sowieso eine Spur weicher. Ob das in vergangenen Jahrhunderten generell so war, kann ich nicht beurteilen; ich hatte meine Ohren damals noch nicht an der Materie. Und es wird ja auch viel in diese Dinge hineingeheimnisst.
Ludwig Güttler im Ruhestand – das war etwas, was sich lange keiner vorstellen konnte, Sie selbst wahrscheinlich am allerwenigsten. Wie fühlt es sich momentan an?
Ich habe ja mit dem Jahr 2022 meine Tätigkeit als Solist beendet und habe mir dann ab dem 1. Januar erst mal ein Vierteljahr Ruhe verordnet. Das hat sich allerdings seltsam ausgewirkt. Ich stand auf einmal neben mir, ich war gar nicht mehr ich selber. Es galt erst einmal in Gedanken zu fassen, wie es nun weitergeht. Trompete blasen darf ich nicht mehr, aber ich werde weiter dirigieren. Wann? Das ist schwer zu orakeln, ich treffe da noch keine Entscheidungen, lassen wir mal noch ein bisschen Zeit vergehen. Jedenfalls wird es nicht vor Herbst sein. Es ist aber nicht auszuschließen, dass um Weihnachten 2023 herum wieder ein paar Konzerte kommen.
Können Sie sich eigentlich noch an Ihre allererste Schallplattenproduktion erinnern?
Natürlich, das war vor fünfzig Jahren eine Einspielung mit dem Kammerorchester Berlin unter Heinz Rögner. Erst mal mussten wir zwei Jahre warten, bis die Platte überhaupt auf dem Markt war. Ich kriegte zwei Belegexemplare. Da habe ich meine Freunde ausgeschickt: kauft soviel auf, wie ihr könnt! Um die Platten zu bekommen bei den Verkäuferinnen, musste ich der einen zum Beispiel eine Halskette für die Jugendweihe ihrer Tochter mitbringen – ein Kapitel, an das ich heute selber gar nicht mehr richtig glauben kann.
Jedenfalls war ich dann im neutralen Schweden auf Konzertreise, mit Konzerten, die vierzehn Tage auseinanderlangen. Zwischendurch habe ich mir auf der westdeutschen Botschaft einen Pass geben lassen, bin in die BRD eingereist und habe mir auf dem Hauptpostamt dreitausend Adressen aus den Telefonbüchern quer durchs Land rausgeschrieben. Den Kirchenmusikern schrieb ich dann jeweils: ich würde gern einmal bei Ihnen spielen und bitte um Einladung! Als Beweis meines Könnens legte ich dann eine Platte bei und gab für die Aktion insgesamt 48.000 Mark aus. Es haben nicht ganz ein Prozent überhaupt geantwortet. Von den dreißig Rückmeldungen gab es zwölf Einladungen – und aus diesen zwölf Einladungen wurden am Ende vier Konzerte. Das war der Grundstock meiner Konzerttätigkeit; denn überall wurde ich wieder eingeladen.
Vor Augen und Ohren stehen mir aus den letzten beiden Jahrzehnten auch die zahlreichen CDs, die Sie in der wiedererstandenen Frauenkirche aufgenommen haben: das Weihnachtsoratorium von Homilius, Werke von Bach, Hasse, Zelenka, Vivaldi, Krebs oder Praetorius. Spätestens jetzt kannte Sie in Deutschland jeder. Was meinen Sie, wieviele Ihrer Nachwendekonzerte waren Benefizkonzerte für den Wiederaufbau?
Jahrelang jedes einzelne Konzert. Wenn es ein kommerzielles Konzert war, habe ich am Ende immer eine Rede gehalten; die Kollegen sollten mit den Füßen scharren, wenn meine Rede zu lang wurde … 1.500 Konzerte werden es bestimmt gewesen sein. Angefangen haben wir mit dem Appell bereits im Dezember 1989. Im November hatten wir unsere Zusammenkunft als Initialzündung für den Wiederaufbau gehabt, und bis 2005 zur Weihe gingen dann die Benefizkonzerte. Ich habe da richtig Schindluder mit meiner Gesundheit betrieben, im Durchschnitt vielleicht vier Stunden geschlafen. Proben, Konzerte, Touren... und zwischendurch Telefongespräche. Die Organisation, das lag ja alles in unseren Händen. Ich habe die Musik vor alles andere gestellt; mit einer anderen Haltung wäre es mir ja gar nicht möglich gewesen. Und andere Aktivitäten wie zum Beispiel die Musikwoche Hitzacker nahmen meine Zeit ebenfalls in Anspruch. Mein Privatleben aus dieser Zeit kann ich leider nicht mehr nachholen. Aber nachdem der Wiederaufbau gelungen ist, quält mich wenigstens nicht mehr der Zweifel, ob wir es schaffen.
Stand das denn jemals auf der Kippe?
Was glauben Sie! Ich habe in meiner Wut so manches Mal gedacht, dass ich einmal die ganzen Begriffe sammeln sollte, die über uns ausgekippt worden sind: ihr seid größenwahnsinnig, das wird sowieso nichts. Die Bedenkenträger sind immer in der Mehrheit. Das kann man nicht ausschalten.
Ich möchte noch einmal auf das von Ihnen eingespielte Trompeten-Repertoire kommen. Sind Ihnen da bestimmte Komponisten, bestimmte Platten besonders wichtig zu nennen?
Wenn ich alle meine CDs Revue passieren lasse, ist es ja nicht nur das Spielen, auch das Dirigieren, bis hin zu Mozart-Sinfonien. Ich erinnere mich gern an die Vollendung, die mir im Ensemble entgegenklang. Mit Worten ist das schwer zu fassen. Und einzelne will und kann ich da gar nicht herausgreifen. Es ist ja so: ich habe gar nicht alle CDs abgehört, nachdem sie fertig waren. Da waren ja manchmal schon die nächste und die übernächste dran. Das Aussuchen eines Repertoires mit den Dresdner Hofkomponisten, diese Werke zu entdecken und spielbar zu machen – das war ja immer ein langer Vorlauf, bevor sie ins Repertoire kamen. Die mussten dann immer erst einmal bei einem Konzert in der Nähe ausprobiert werden, bis sie aufnahmereif waren. Und dann diese störrischen Veranstalter zuweilen: wer ist denn das, Heinichen? Da musste man ja auch mit Kritikern reden. Ich habe zigtausend unveröffentlichte Autographen studiert, ein Riesenfeld, mit dem man sich befassen musste. Ich habe damals mit Dr. Reich, Ortrun Landmann und Wolfram Steude in der Landesbibliothek gearbeitet, habe Bibliotheken in Schwerin, Rostock, Leipzig, in Italien und Schweden durchstöbert. Diese Musik ist ja ein europäisches Phänomen, sie lässt sich nicht lokal in Dresden festmachen.
Ist Ihnen dazu noch eine besondere Entdeckungsgeschichte im Gedächtnis?
Ja, dazu eine kleine Anekdote. Das Repertoire für solistisches Corno da caccia war 1945 in Dresden verbrannt. Ein Hornist hatte aber diese Werke abgeschrieben, und wir haben dieses Repertoire in Lund (Schweden) wiedergefunden. Das waren beglückende Momente, wenn man so etwas entdeckt! Oder Kremsier (Kroměříž) – da residierte im siebzehnten Jahrhundert mit Karl II. von Liechtenstein-Kastelkorn ein Fürstbischof, der größte Musikfan unter den Herrschern. Zu seiner Zeit hatte Paris 18 Planstellen für Musiker, Dresden zwölf – und er hatte 42! Ich habe mich dort ins Musikarchiv des Schlosses reingeschmuggelt, indem ich den Pförtner mit acht Pfund Nescafé bestochen habe. Seit 1918 war ich der erste, der dort die Fenster aufgemacht hat. Ich habe die Notenblätter auf den Fußboden gelegt, aber nicht zu lange, damit sie sich nicht wellen, und abfotografiert; an die 54 Dokumentenfilme hatte ich von einem Leipziger Freund bekommen. Sehen Sie, da konnte ich noch gar nicht dran gehen; 130 Jahre müsste man werden! Es ist ein irrer Kosmos, unerschöpflich.
Juckt es Sie da nicht in den Fingern, solche Projekte aufzugreifen, jetzt, wo Sie nicht mehr konzertieren?
Ich hab es mir verboten, meine Tage unmittelbar nach der Beendigung des Trompeterdaseins sofort wieder aufzufüllen. Erst mal brauche ich jetzt Ruhe, auch wenn das wirklich schwer durchzuhalten ist. Jede Idee, die kommt, findet sofort meine innere Bereitschaft: übermorgen um drei gehts los. Ja, was ist das Maß?
Jetzt pendeln Sie zwischen Ihrer neuen Wohnung am Neumarkt und Ihrem Haus in Kärnten, wo Ihre Frau arbeitet.
Ja, meine Frau ist Chefin der österreichischen Bundesforste in Kärnten. Wir haben einen Riesengarten dort, und ich liebe den fantastischen Wein. Ich habe ja auch österreichische Wurzeln: meine Vorfahren väterlicherseits sind Salzburger Exulanten, Geigen- und Lautenmacher. Die sind nach Königsberg und Krakau ausgewandert, haben die wichtigen Städte von Budapest bis Prag mitgenommen, wirklich eine europäische Familie. Im Bachmuseum in Eisenach hängen Tanzmeistergeigen von einem Johann Michael Güttler. So dass es mir gar nicht fremd vorkam, als wir einmal mit der Philharmonie in Graz waren. Damals war ich mit dem Flötisten Eckart Haupt im Doppelzimmer. Ich sagte: Eckart – hier kenn ich mich aus!
Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.
Das Gespräch führte Dr. Martin Morgenstern.