Augustusburg bekommt ein Sinfonieorchester und wird zur Kulturregion – Wie ein junger Kantor die Musikszene in Mittelsachsen belebt
Pascal Kaufmann (27) hatte eigentlich eine Assistenzstelle als Organist an der Dresdner Frauenkirche inne, als er mit seiner Freundin wandern ging: Nach Augustusburg im Erzgebirge. Ein Dorf mit 4.000 Einwohnern. Er war begeistert von der malerischen Kulisse des kurfürstlichen Jagdschlosses, das herrschaftlich auf dem Schellenberg thront und der Kirche nebenan. Die Tür zur Stadtkirche St. Petri stand offen, eine nette ältere Dame ließ ihn an die Orgel, eine der größten in Mittelsachsen, und seitdem schwärmt er von der Akustik des Raums. »Es ist nicht wie in der Elbphilharmonie«, sagt er, »wo man jeden Ton einzeln heraushören kann, die Kirche hat einfach eine optimale Nachhallzeit, kann Klänge formen und verschmelzen. Sie ist kein trockener Konzertsaal und eignet sich vor allem für die Romantik. Und selbst nur acht erste Geigen klingen hier nicht dünn.«
Als er hörte, dass gerade eine halbe Kantorenstelle zu besetzen war, entschied er sich gegen die berühmte Frauenkirche mit großem Publikum und hochkarätigen Gastorganisten und zog ins Erzgebirge. »Es war mir ein Herzensanliegen, etwas Neues aufzubauen, wo nicht bestehende Traditionen gepflegt werden, sondern erst entstehen«, sagt Pascal Kaufmann, der zwei Studienabschlüsse hat. Einen in Schul- und einen in Kirchenmusik. Das erwies sich als ideale Voraussetzung für diese Stelle. »Es ist die Kombination Lehrer und Kantor in der Tradition von Bach«, erklärt er. Man kann damit viele Synergieeffekte nutzen von Kirche, Schloss, Freistaat, Landkreis, Stadt und Schule. Kurze Wege, weniger Bürokratie. »Ich will dem Klischee, Kirchenmusiker könnten alles und nichts, entgegentreten,« unterstreicht Kaufmann. »Ich habe mir deshalb zwei Schwerpunkte gesetzt, in denen ich mich besonders fortbilde: Die Bereiche Tasteninstrumente und Orchesterdirigieren.« Es sind also einerseits die Fähigkeiten als Musiker, anderseits die Erfahrungen aus der Institution Dresdner Frauenkirche, die Augustusburg zugute kommen. So entstand z.B. eine Sommermusikreihe, die schon im ersten Jahr 2000 Besucher in den kleinen Ort lockte, im zweiten Jahr sogar 5000, mehr Zuschauer/- innen als Einwohner!
Nachdem das kulturelle Angebot so dankbar angenommen worden war, reifte eine weitere Idee: Deutschland hat eine wunderbare musikalische Infrastruktur, ein dichtes Musikschulnetz, den Wettbewerb »Jugend musiziert«, Landesjugendorchester. Warum sollte man nicht dieses Potential nutzen und jungen Leuten eine Bühne bieten? Würden sie Lust haben, ins schöne Erzgebirge zu reisen? Sie hatten! Deshalb konnte im November 2019 ein großes Wagnis beginnen: Die Gründung der »Jungen Philharmonie Augustusburg« bestehend aus 52 jungen Leuten, die an nur drei Tagen zu einer homogenen Gruppe geformt werden sollten. Und siehe da, es funktionierte. Mit der Kirchgemeinde als Träger, der Hilfe von Dorfgemeinschaft, lokaler Wirtschaft und finanziellen Förderungen wurden zwei Konzerte organisiert. Die Stadtkirche St. Petri konnte den Besucheransturm aus der Region kaum fassen, beide Konzerte waren ausverkauft, dadurch war es möglich, die Hälfte der Ausgaben aus dem Eintritt zu bestreiten. Viele junge Musiker, ganz gleich, ob unentdeckte Talente oder erfahrene Musikstudenten, hatten es sich zum Ziel gesetzt, die große Sinfonik auf diesem Berg »mit Weitsicht« zu interpretieren und reisten bestens vorbereitet an. »Natürlich ist die Programmauswahl sehr wichtig,« erklärt der Dirigent, »es muss etwas sein, was Laien, Schüler und Rentner gleichermaßen anzieht und auch die Länge ist entscheidend. Wer will schon zwei Stunden auf harten Kirchenbänken sitzen?« lächelt er.
So entschied sich Kaufmann für das Klavierkonzert a-Moll von Edvard Grieg und die Ouvertüre »Romeo & Julia« von Peter Tschaikowsky und plant schon ein weiteres Konzertwochenende im September. In wenigen Wochen wird die 19-jährige Solistin und Tonali-Akademistin Charlotte Thiele im Violinkonzert von Tschaikowsky konzertieren. Über dieses Konzert verkündete der berühmteste Geigenvirtuose seiner Zeit, Leopold Auer im Jahre 1878, es sei zu schwer und schlichtweg unspielbar. Außerdem steht eine impressionistische Klangmalerei mit Vogelstimmen des finnischen Komponisten Rautavaara auf dem Programm.
Aber die Konzertauswahl ist nur ein Mosaikstein im Gesamtprojekt. »Ohne die vielen ehrenamtlichen Helfer hier am Ort wäre das nicht zu stemmen,« lobt Pascal Kaufmann. Zwar hat er selbst den Podestaufbau und die Bestuhlung des Altarplatzes organisiert, aber ohne den Zahnarzt, der die Öffentlichkeitsarbeit übernahm oder die Einwohner, die für das Orchester Kuchen backen und Brote belegen und viele andere, wäre so ein Projekt nicht zu stemmen. »Wir Musiker haben uns hier ganz lieb betreut gefühlt,« schwärmt ein junger Bläser. »Es ist fast ein bisschen wie bei Oma. Aber natürlich steht die musikalische Aussage im Vordergrund. Es hat einfach alles gepasst.«
Kaufmann hat das Potential der Region erkannt und der kulturellen Entwicklung des kleinen Ortes Augustusburg zu überregionaler Strahlkraft verholfen. Sein Plan, besonders mit jungen Leuten zu arbeiten, ging auf. Die evangelische Landeskirche hat das honoriert und seine Stelle ausgebaut. Ein schönes Beispiel dafür, dass kulturelle Bemühungen um eine strukturschwache Region auch unterstützt werden.
»Ob ich hier bei all meinen Initiativen auf große Widerstände gestoßen bin?«, überlegt der Musiker »naja, ich habe zwei Chöre zu einem zusammengeführt, die mussten sich erstmal aneinander gewöhnen«, lacht er.
Um in diesen Zeiten musikalisch-optimistische Grüße zu senden, startet die Reihe: »Töne von Herzen für die Welt-Augustusburger Turmkonzerte«, eine Art musikalischer Dialog zwischen Kirchturm und Schloss. Von Juni bis Oktober werden jeden Samstag nach dem Abendgeläut hochkarätig besetzte Blechbläser Formationen über dem kleinen Ort zu hören sein.
Christina Schimmer