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Musikergesundheit im Landesjugendorchester Sachsen – ein Pilotprojekt

»Musik bedeutet Gleichgewicht. Denn Musik ist alles zugleich: Kopf, Herz und Bauch, Denken, Fühlen und Sinnlichkeit.« (Daniel Barenboim)

Gleichgewicht beschreibt sehr treffend die wunderbare Erfahrung, wenn beim Musizieren geistige, seelische und körperliche Prozesse im Einklang sind. Der gesamte Musiker befindet sich in Balance und kann sich ganz seiner Tätigkeit hingeben. Wie aber sieht es in den vielen Jugend,- Amateur- und Profiorchestern aus, sind dort wirklich Kopf, Herz und Bauch im Gleichgewicht? Zahlreiche Studien belegen, dass ein an sich ganzheitliches Musizieren allzu leicht ins Ungleichgewicht zu geraten und zu einer einseitigen Belastung zu werden droht (vgl. Samsel; Möller; Müller 2006). Oft leidet darunter auch die Freude am Orchesterspiel, wenn die hohen körperlichen und psychischen Anforderungen die Gesundheit der Musiker beeinträchtigen und die Sinfonien von Mozart, Beethoven oder Bruckner nach dem Konzert nicht nur innerlich nachklingen, sondern auch noch in den Armen, Schultern, Lippen oder im Rücken »nachschmerzen«. Das gilt nicht nur für professionelle Orchestermusiker – bereits Jugendliche sind häufig mit instrumentenspezifischen Überlastungssyndromen oder Auftrittsängsten konfrontiert.

Musikergesundheit – ein Thema mit großem Entwicklungspotential

Ein Sprichwort aus dem Volksmund lautet: »Musik heilt kein Zahnweh«. Eigentlich schade, mag wohl der eine oder andere Leser an dieser Stelle denken. Welche Wirkungen über diese nüchterne (und vielleicht zu kurz gegriffene?) Feststellung hinaus das Musizieren auf den Musiker ausüben kann, haben u.a. Musikmediziner in den letzten dreißig Jahren intensiv untersucht. Dabei rückte insbesondere die Frage in den Fokus der Forschung, wie die ungeheuer präzisen und feinmotorisch komplizierten Bewegungen ohne Schmerzen ein Leben lang bewältigt werden können. Musiker vollbringen körperliche und geistige Höchstleistungen. Technische Perfektion, lange Atemphrasen, Konzentration auf höchstem Niveau usw. – dem Körper wird beim Musizieren einiges abverlangt. Parallelen zum Sport sind daher naheliegend und nachvollziehbar. So bezeichnet etwa Prof. Eckart Altenmüller, Leiter des Institutes für Musikphysiologie und Musikermedizin in Hannover, Musiker als »Athleten der kleinen Muskeln, des Gehirns und der Emotionen«. Doch im Unterschied zum Leistungssport ist die gezielte Vorbereitung des Körpers auf das Musizieren (noch) kein fester Bestandteil der Probenarbeit in Orchestern.

Zum Vergleich: Kein einziger Sprinter würde im Leistungssport die 100 Meter ohne Aufwärmen laufen. Vielmehr wärmt er sich etwa 90 Minuten auf, um seine volle Leistungsfähigkeit ohne Verletzungsrisiko im Sprint abrufen zu können. Das Bewusstsein dafür und das Wissen darum, wie der Körper auf die zu erbringende Leistung vorzubereiten ist, gehört zum festen Bestandteil des sportlichen Trainings. Auch wenn es natürlich viele Unterschiede zum Sport gibt, ist es doch auch für Musiker wichtig zu wissen, wie sie ihre Fähigkeiten für ein intensives Musizieren langfristig erhalten. Ein den Sportlern vergleichbares Bewusstsein hierfür scheint aber kaum vorhanden zu sein.

Dass gerade Musiker von einem Wissen über grundlegende physiologische Zusammenhänge, über die Körpersensibilität und die bewusste Wahrnehmung der eigenen Spielbewegungen profitieren können, ist mittlerweile von vielen Musikhochschulen erkannt worden. Ein z. T. umfangreiches musikermedizinisches und körperorientiertes Angebot gehört zum guten Ton vieler Musikhochschulen. Auffällig ist aber, dass es ein vergleichbares Angebot in den Amateur- oder Berufsorchestern selbst kaum gibt. Dort also, wo viele tausend Stunden musiziert wird, bleiben musikergesundheitliche Fragen nicht selten komplett ausgeklammert. Um dieser Vernachlässigung physiologischer Aspekte im Orchester entgegenzuwirken, wurde das Präventionsprojekt »Fit für Musik – Musikergesundheit im Landesjugendorchester Sachsen« als Pilotprojekt ins Leben gerufen, siehe Broschüre auf www.saechsischer-musikrat.de/publikationen.

Musikergesundheit im Landesjugendorchester Sachsen

Das LJO Sachsen versteht sich in seiner grundlegenden Ausrichtung als ein Orchester, das neben einer intensiven künstlerischen Auseinandersetzung auch eine ganzheitliche Entwicklung der Jugendlichen im Alter von 14 bis 26 Jahren fördern möchte. Hierzu gehört – dank der innovativen Initiative der engagierten Projektleiterin Ulrike Kirchberg und der Unterstützung durch den künstlerischen Leiter Prof. Milko Kersten – das Thema Musikergesundheit. Für ein möglichst schmerzfreies lebenslanges Musizieren – ob nun als Amateur oder Profi – lernen die Jugendlichen eine auf Musiker ausgelegte Körper- und Bewegungsarbeit als festen Bestandteil der täglichen Probenarbeit kennen. Realisiert wird dieses bundesweit einmalige Präventionsprojekt vom Sächsischen Musikrat e.V. in Kooperation mit der AOK PLUS – der Gesundheitskasse für Sachsen und Thüringen. Seit 2011 gehört dieses Angebot nun bei allen einwöchigen Probenphasen zum Orchesterleben dazu. Die jugendlichen Instrumentalisten erleben es mittlerweile fast schon als Selbstverständlichkeit, den Körper vor jeder Probe aufzuwärmen, sich in kurzen Pausen einen Ausgleich zur einseitigen Instrumentenhaltung zu verschaffen oder sich bei spielbedingten Schmerzen oder Problemen in Einzelstunden Rat und Hilfe zu holen. Verantwortlich für dieses Angebot sind Herbert Bayer, Instrumentalpädagoge und Dispokinesis-Lehrer und Stephan Berg, Diplom-Instrumentalpädagoge und Motologe.

Die Ziele des Bewegungsangebotes

Mit dem Bewegungsangebot sollen im Wesentlichen fünf konkrete Ziele erreicht werden:

1. Warm-up
Um optimal auf das Musizieren vorzubereiten, wird beim Warm-up der gesamte Körper durchbewegt, denn bei feinmotorischen Bewegungsabläufen am Instrument sind immer viele Muskelgruppen beteiligt: Selbst wenn beispielsweise mit dem Zeigefinger nur die eine Klappe der Querflöte bewegt werden soll, arbeiten viele – in langen Gliederketten – organisierte Muskeln zusammen. Für das Warm-up eigenen sich besonders gut Bewegungsübungen, die die Aufrichtung, die Beweglichkeit, die Durchblutung, die Koordination und die Sensibilität des Körpers fördern.

2. Cool-down
Das Cool-down erfüllt die Aufgabe, die beanspruchte Muskulatur durch leichte Bewegungs- und Dehnübungen zu lockern und die Durchblutung anzuregen, um Verspannungen und Überlastungen der Muskeln, Sehnen und Bänder zu vermeiden. Durch das Cool-down regeneriert sich die beanspruchte Muskulatur schneller – ein positiver Effekt für den nächsten Probentag.

3. Entspannung und Ausgleich
Die Fähigkeit, sich entspannen zu können und körperliche oder psychische Beanspruchungen auszugleichen, ist für eine nachhaltige Leistungsfähigkeit und Gesundheit von Musikern sehr wichtig. Gute Regenerationsfähigkeit trägt einen wichtigen Teil dazu bei, auch am Tag nach einer größeren Belastung (z. B. einer langen Generalprobe) erneut die eigenen Fähigkeiten optimal abrufen zu können. Dazu eigenen sich eine ganze Reihe unterschiedlicher Bewegungs- und Entspannungsübungen im Stehen, Sitzen oder Liegen.

4. Stärkung der Kraftausdauer
Beim Musizieren ist neben Bewegungsschnelligkeit vor allem Kraftausdauer entscheidend, ermöglicht gerade sie doch beispielsweise das stundenlange Hochhalten des jeweiligen Instrumentes. Ein Kraftausdauertraining kann wesentlich dazu beitragen, spielbedingten Überlastungen vorzubeugen. Es benötigt keine ausgefallen Geräte, sondern lediglich ein Thera-Band oder das Körpereigengewicht.

5. Verbesserung der Koordination
Beim Musizieren gibt es eine Vielzahl schwieriger Bewegungen, z. B. schnelle Fingerkombinationen bei Bläsern oder Doppelgriffpassagen bei Streichern. Wissenschaftliche Studien belegen, dass sich ein Training der allgemeinen Koordination positiv auf das Lernen von neuen Bewegungen und die Mühelosigkeit der Bewegungsabläufe auswirkt. Und besonders die Bewegungsökonomie, also das gut koordinierte Zusammenspiel der Muskeln ohne – unnötige! – Kontraktion eigentlich unbeteiligter Muskeln, ist für Musiker bei langer Probendauer wichtig. Geeignet sind hierfür spielerische Übungen mit unterschiedlichen Aufgaben für die rechte und linke Hand bzw. für Arme und Beine, Balanceübungen oder Übungen mit geschlossen Augen. 

Die Bewegungsübungen sollen den Musikern dabei helfen, unbeschwert Musik machen und sich frei auf ihrem Instrument ausdrücken zu können. Langfristig zielt die Körper- und Bewegungsarbeit darauf ab, die Körperwahrnehmung zu verfeinern, instrumentale Bewegungsabläufe ökonomisch zu gestalten und den Zusammenhang zwischen einem runden, tragfähigen Klang und müheloser körperlicher Aufrichtung erfahrbar zu machen. Die Übungen sind daher immer auch als kleine Etüden für die Körpersensibilität zu verstehen, an denen es viel zu entdecken gibt: Wie fühlt sich der eigene Arm vor und nach einer bestimmten Übung an? Wie verändert sich die Koordination bei fließender gegenüber angehaltener Atmung? Wie verändert sich der eigene Klang in unterschiedlichen Körperhaltungen? Für detailliertere Einblicke siehe: »Fit für Musik – Eine Übungssammlung zur Musikergesundheit«.

Zentrales Anliegen der Körper- und Bewegungsarbeit im LJO Sachsen bleibt dabei immer die musikalische Entwicklung der Jugendlichen. Eine Orchesterkultur, die im Einklang mit physiologischen Gesetzmäßigkeiten probt und konzertiert, kann individuelle Potentiale vollumfänglich ausschöpfen und verschleißt sie nicht in Überlastungssyndromen. Denn wie sagte schon Albert Einstein: »Alles Schöpferische kommt nur aus der Entspannung«.

Ein weiteres Ziel des Projekts Musikergesundheit ist es, den Musikerinnen und Musikern Angebote zu machen, in denen sie dazu eingeladen werden, sich selbst besser wahrzunehmen und in einen inneren Dialog mit sich selbst zu treten. Denn eine der zentralen Fragen für jeden künstlerisch tätigen Menschen ist: Was kann ich tun, damit es mir leicht fällt, das, was mich emotional bewegt, ungehindert über Körper und Instrument auszudrücken und zum Klingen zu bringen? So bietet das Angebot der Dispokinesis eine weitere Möglichkeit und einen Erfahrungsraum, die Kompetenz im Umgang mit dem eigenen Körper in Verbindung mit dem Instrument zu erweitern und zu stärken. Liegt doch in der Bewusstwerdung der eigenen Wahrnehmung der Schlüssel zu einem kompetenten Umgang mit sich selbst.

Die Dispokinesis

ist eine von dem Musiker und Physiotherapeuten G.O. van de Klashorst (1927–2017) entwickelte ganzheitliche Haltungs- und Bewegungsarbeit. Das Wort Dispokinesis leitet sich aus dem Lateinischen »disponere« = verfügen und dem Griechischen »kinesis« = Bewegung ab. Die Dispokinesis ist ein Weg für Musiker/innen, ihre Freiheit zum künstlerischen Ausdruck (wieder-) zu erlangen. Sie betrachtet die verschiedensten ‚Spielstörungen‘ und Musikerleiden als Ausdruck einer Hemmung, einer ‚Indisposition‘. Diese entstehen durch ungünstige oder künstliche Haltungs-, und Spielbewegungs-, Atmungs-, und Ansatzmuster, die unbewusst sind und sich auf Dauer negativ und unter Umständen gesundheitsschädlich auswirken können. Oft werden die Muster zusätzlich verstärkt durch ungünstige ergonomische Bedingungen. Umgekehrt umschreibt ‚disponiert sein‘ die Erfahrung von Verfügbarkeit und Verlässlichkeit von Feinmotorik, Atemstütze, Ansatz, etc. im Dienste des musikalischen Ausdrucks.

Die sogenannten ›Urgestalten von Haltung und Bewegung‹ bilden die Basis der dispokinetischen Arbeit. Dabei handelt es sich um einfache Übungen im Liegen, Vierfüßlerstand, Sitzen und Stehen. Die Aufmerksamkeit für den eigenen Körper wird geweckt, so dass sich ein verfeinertes, zur Ausdifferenzierung befähigtes Körper- und Bewegungsgefühl entwickeln kann. Somit stoßen die Urgestalten einen Bewusstwerdungsprozess an, durch den ungünstige Haltungs- und Bewegungsmuster selbst erkannt und geändert werden können. Dem Mensch wird so ermöglicht, zu seiner ureigenen ungehemmten Bewegungs- und Ausdrucksfähigkeit zurückzufinden. Die Auseinandersetzung mit den Urgestalten bildet die Grundlage für die darauffolgende Arbeit am Instrument.

Die Dispokinesis unterscheidet sich von anderen Körperarbeiten durch ihren direkten Bezug zum jeweiligen Instrument bzw. der Stimme und das Anbieten individueller Lösungsansätze. So ist ein weiterer wichtiger Baustein die optimale Anpassung des Instruments an den Musiker. Die Dispokinesis geht davon aus, dass das Instrument dem Körper anzupassen ist und nicht umgekehrt. Daher wurden spezielle Hilfsmittel wie Stützen für Instrumente oder ein Sitzkeil entwickelt, um eine günstige Haltung und die Bewegungsfreiheit am Instrument zu befördern. Ebenso spielt der Aspekt der Prävention aus musikmedizinischer Sicht in der dispokinetischen Arbeit eine wichtige Rolle. Gewinnt doch das Bewusstsein sowohl für die Funktionalität des Instrumentalspiels als auch für die ganzheitlichen Aspekte der Haltungs- und Bewegungspädagogik für jeden Musiker und Musiklehrer immer mehr an Bedeutung.

»warm up« mit dem Landesjugendorchester Sachsen
Foto: Stephan Flad

Zu den Autoren

<link mail window for sending>Stephan Berg ist Diplom-Instrumentalpädagoge, Motologe (Master of Arts), Doktorand und Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaften und Motologie der Universität Marburg. Zusätzlich arbeitet er als Dozent an der Fachhochschule Emden, der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt und dem Zentrum für Musik, Gesundheit und Prävention auf Schloss Kapfenburg. Musikalisch ist er seit vielen Jahren verschiedenen Ensembles in der Rhein-Main-Region verbunden.

<link http: external-link-new-window external link in new>Herbert Bayer ist Pädagoge für Klarinette und Dispokinesis. Neben seiner Tätigkeit als Instrumentalpädagoge arbeitet er in eigener Praxis für Dispokinesis in Filderstadt mit Musikern aller Instrumentengruppen sowie Sängern und Dirigenten. Er ist Dozent im Ausbildungslehrgang für Dispokinesis bei der »Europäischen Gesellschaft für Dispokinesis e.V.« und leitet bundesweit Workshops und Einführungsseminare für Dispokinesis.

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