Ich bin gebeten worden, einen Text zu schreiben zum Thema »Was ist uns Kunst wert?«. Hätte ich diesen Titel indes als Überschrift gewählt, würde sich niemand mit meinen Überlegungen auseinandersetzen. In einer Zeit, da der Erfolg einer Unternehmung (eines Konzerts, eines Textes) vorrangig in Besucherzahlen, Klicks und Likes, also in Aufmerksamkeit von Konsumenten gemessen wird, hat die Hochkultur ein dickes Problem: sie bedient nicht den Massengeschmack. Um keine weiteren Anzeigenkunden zu verlieren, sind die Feuilletons der gedruckten Zeitungen gezwungen, mehr große Fotos prominenter Klassikstars mit tiefem Ausschnitt und weniger tiefschürfende Texte abzudrucken; erstere haben sich beim gemeinen Abonnenten schlicht als populärer herausgestellt. Online sind kurzweilige Überschriften das Aaah und Oooh; lange Texte werden in kleinere Häppchen aufgeteilt und dazu – klick-klick-klick – Fotogalerien eingerichtet, denn die Aufmerksamkeitsspanne des Lesers ist kurz, er will bei Laune gehalten werden. Und, kein Witz, der Konzertdramaturg des Barockfestivals wird vom Anzeigenpartner gefragt, ob er nicht vielleicht beim nächsten Mal noch Helene Fischer ins Programm aufnehmen könne – »die interessiert meine Kunden doch viel mehr als Ihre Blockflöten!«
Ich möchte nicht falsch verstanden werden: die Klassikwelt hat sich gefälligst um ihr Publikum zu bemühen. Sie ist zum überwiegenden Teil steuerfinanziert, sollte also offen für Hörerwünsche sein, sollte neue Wege in der Vermittlung gehen, nicht am Zeitgeschmack vorbeiarbeiten, sie muss die gesellschaftliche Relevanz im Auge haben. Sonst wird sie sich über kurz oder lang einfach überholt haben und eingestellt werden. Aber: welche Kunst förderwürdig ist, was »gute« Kunst ist, sollte keinesfalls Frage von Mehrheitsentscheidungen sein. Der unmittelbare Publikumserfolg, »die Quote«, darf nicht das ausschlaggebende, zumindest nicht das einzige Kriterium für ihren Erfolg sein! Und die Chefredakteure und Herausgeber müssen verstehen: auch, wenn die Kunstkritik kaum einen »Zeigerausschlag« auf dem Messgerät der Lesergunst hervorruft, ist sie für das Feuilleton ein wichtiger, vielleicht sogar der wichtigste Qualitätsmaßstab.
Dass auch Kunst und Künstler, die nicht auf vordergründige, populäre Wirkung aus sind, von der Gesellschaft prinzipiell gefördert werden sollten – darüber dürfte doch kaum Zweifel bestehen. Wer aber soll entscheiden dürfen, was wert ist zu fördern, wenn nicht das Volk? Lieber die Volksvertreter, per Mehrheitsbeschluss? Praktisch ist das momentan so: auf diese Art beschloss der Dresdner Stadtrat beispielsweise kürzlich, den Vertrag mit der Dresden Frankfurt Dance Company zu verlängern, obwohl – grob hochgerechnet – nur etwa jeder tausendste Dresdner jemals eine Veranstaltung dieser Kompanie besucht haben dürfte. Klar, es gab mahnende Stimmen aus der SPD-Fraktion des Stadtrates, die vorrechneten, wieviel ein einzelner Sitzplatz bei den Tanz-Aufführungen am Hellerauer Festspielhaus den Dresdner Steuerzahler eigentlich kostet. Je nach Auslegung sind das zwischen knapp 100 und über 500 Euro pro Besucher. Der Stadtrat kürzte am Ende das Budget der Truppe; um nicht als Spielverderber dazustehen, versprachen die Politiker, dass die eingesparte Summe zukünftig der freien Tanzszene zugute kommen soll. Wir, die Wähler, müssen uns darauf verlassen, dass die Politiker in solchen Entscheidungen das Gemeinwohl im Auge behalten; wobei die allgemeine Lesart in Deutschland ist, dass der Erhalt unserer reichen Kulturlandschaft Aufgabe der Allgemeinheit ist und nicht dem Wohl und Wehe einzelner superreicher Mäzene und Sponsoren überlassen werden sollte.
Genau dafür haben wir zum Beispiel einen Rundfunkbeitrag, den übrigens sieben von acht Deutschen gern ersatzlos abschaffen würden. Jährlich bringt er 8,3 Milliarden Euro ein, die u.a. 25.000 feste Mitarbeiter, darunter Tausende von Kunstschaffenden in knapp drei Dutzend Rundfunk-Orchestern und -chören finanzieren. Wer sich einmal vor Augen geführt hat, was das über die Jahrzehnte für ein Motor für die Künste war, was diese musikalische Vielfalt für die deutsche Musiklandschaft für einen Wert darstellt, der denke bitte künftig zweimal nach, ob er wirklich mitmurren sollte, wenn Populisten schäumend die Abschaffung der »Zwangsgebühr« für die mediale »Gehirnwäsche« fordern.
Nein, andersherum wird ein Schuh draus: jeder, der weiß, wieviel Geld der Staat in die Kunst und die Künstler steckt, sollte so oft wie möglich die Künste in ihrer Vielfalt genießen! Verärgert-belustigt merkte der Hellerauer Intendant während der letzten Pressekonferenz an, dass diejenigen Stadträte, die am lautesten über die städtischen Zuschüsse an das Europäische Zentrum der Künste klagen, noch nie auf dem Grünen Hügel Dresdens gesichtet worden seien. Es wäre anzufügen, dass der Stadtrat sich seiner Rolle als Förderer gerade der Künste, die niemals mehrheitsfähig sein werden, noch stärker bewusst werden muss. Es reicht eben nicht, mit großen Geldspritzen populäre »Palastkonzerte« zu subventionieren und somit privaten Konzertveranstaltern, die kostendeckend arbeiten müssen, mit Steuermitteln das Wasser abzugraben. Tut mir leid: wer David Garrett hören möchte, soll das bitte auf eigene Rechnung tun. Ich fände meine Steuermillionen sinnvoller in der Förderung von jungen Künstlern, von stillen, aber irgendwie genialen Hochschulabsolventen, von klug provokanten Außenseitern und vor allem in der künstlerischen Bildung der nächsten Generation angelegt; sei es durch preiswerte Musikschulen, freien Eintritt in Ausstellungen, durch Schulkonzerte, »Jugend musiziert« und, ja, Kunst im öffentlichen Raum.
Apropos, warum sind diese drei aufrechtstehenden Busse eigentlich Kunst gewesen, und der Pappfernsehturm eines Dresdner Spaßmachers nicht? Ein Kollege der FAZ erklärt das sehr schön: was Kunst ist, entscheidet der Künstler per definitionem. Deswegen gehen die Brüllkopfe in die Irre, die gegen die Busse wetterten mit dem Argument, das sei doch keine richtige Kunst, sondern »abartig«, »unanständig«, »von denen da oben angeordnet«, die noch dazu gar nicht »von hier« sind. Denen, die nicht nur brüllen, sondern ins Gespräch kommen wollen, kann man mit guten Argumenten kommen, zum Beispiel, warum Kunst oft das beste Mittel ist, Dinge in Frage zu stellen, Meinungen ordentlich zu erschüttern und Horizonte zu erweitern. Darum kann es eigentlich gar nicht genug Kunst geben! Wir müssen nur wieder Lust bekommen, uns über sie auszutauschen.
Das sollte uns die Kunst wert sein.
Martin Morgenstern