Vor fünf Jahren wurde Christfried Brödel mit einem Festgottesdienst feierlich aus dem Amt des Rektors der Dresdner Hochschule für Kirchenmusik verabschiedet. Welche Projekte er danach in Angriff nahm und welche Pläne er für die Zeit nach seinem siebzigsten Geburtstag hat, der am Wochenende ansteht: darüber hat Christfried Brödel mit Martin Morgenstern gesprochen.
Vor fünf Jahren wurden Sie an der Hochschule für Kirchenmusik emeritiert. Erzählen Sie uns doch zu Anfang kurz, was danach geschah.
Ich bin seitdem im aktiven Ruhestand; irgendwann mal nicht mehr zu musizieren, kann ich mir gar nicht vorstellen. Durch die Emeritierung habe ich viel Freiheit gewonnen. Als erstes habe ich das erwähnte Chorleitungs-Lehrbuch fertiggeschrieben, das bei Bärenreiter erschien und nun schon in der zweiten Auflage vorliegt. Und mit der Meißner Kantorei 1961 habe ich in den letzten Jahren einige wichtige Marksteine passieren können. Der größte davon war sicherlich die Aufführung des Weihnachtsoratoriums von Jörg Herchet in der Christuskirche. Daneben erinnere ich mich an seine "Reformationskantate" in der Frauenkirche im Juni; auch das eine riesige Unternehmung mit vielen Ensembles, leider nicht so überfüllt. Und ein drittes Projekt möchte ich nennen: am Dienstag war in der katholischen Kirche der Tag der Jungfrau von Guadalupe/Mexico. Dazu hatte Herchet eine Kantate geschrieben, die ich in Mexiko aufführen durfte und 2014 auch in Dresden. Zufällig waren das jetzt drei Mal Herchet... Im April durfte ich in Hannover für eine Aufführung der Lukas-Passion von Krzysztóf Penderecki die Chöre einstudieren. Daneben habe ich eine Reihe von Kursen meist außerhalb Sachsens gegeben.
Ein Büchlein über Kirchenmusik in der DDR sollte ebenfalls entstehen. Wie weit sind Sie damit?
Das soll im nächsten Jahr fertig werden und in Leipzig in der Evangelischen Verlagsanstalt erscheinen. Ich hatte ursprünglich eine umfassende Darstellung des Themas im Blick, aber nach den Wünschen des Verlags wird es nun eher persönlich, kürzer und dadurch vielleicht besser lesbar.
2013 wurden Sie Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, 2015 haben Sie zudem den Vorsitz der Neuen Bachgesellschaft übernommen. Der Theologe und Bachforscher Martin Petzoldt war gestorben, Sie wurden zu seinem Nachfolger gewählt.
Bei der Bachgesellschaft war damals viel aufzuarbeiten, Petzoldt war ja zwei Jahre krank gewesen. Mein Anliegen ist es, die Neue Bachgesellschaft zu modernisieren. Sie ist durch bewahrenswerte Traditionen geprägt, braucht aber neue Impulse. Als eine zentrale Aufgabe sehen wir die Weitergabe der Kultur an nachfolgende Generationen, speziell der Bachschen Musik und der Liebe zu ihr. Wir leben in einer Zeit drohenden Kulturabbruchs. Die öffentliche Hand tut nicht gerade viel, diese Entwicklung aufzufangen. Da engagieren wir uns auf vielen Strecken. In Osteuropa habe ich verschiedene "Bach-Akademien" abgehalten. Da arbeiten wir zehn Tage mit einheimischen Musikstudenten, und die besetzen dann in den Konzerten alle Positionen - Solisten, Orchester, Chor und Dirigent - selbst. Die Musiker kommen von der Front, aus verschiedenen politischen Lagern, und spielen dann gemeinsam – da erlebt man Eindrückliches. Die nächste Akademie ist für November 2018 in der Ukraine geplant.
Daneben widmen wir uns einer weiteren Bildungsaufgabe. Kinder, die in Deutschland nicht Gymnasien, sondern Haupt- oder Realschulen durchlaufen, hören möglicherweise bis zum ihrem Schulabschluss nicht ein einziges Mal von Johann Sebastian Bach. Hier planen wir, neue, attraktive Unterrichtsmaterialien herzustellen, die Schüler und Lehrer auf dieses Thema lenken. So etwas lässt sich natürlich nicht 'von oben' verwirklichen; aber wir möchten, dass in ganz Deutschland bekannt wird, dass wir diese Materialien bereitstellen und die Lehrer bei uns zugreifen können.
Eine wesentliche Aufgabe der Bachgesellschaft ist auch die Planung von jährlichen Bachfesten. Das jüngste "Bachfest Dresden" etwa – wie sieht da Ihr Fazit aus?
Dresden im vorigen Jahr - das war ein nicht ganz einfaches Bachfest, da die Förderung der Stadt wesentlich weggebrochen war. Da ist ein atypisches Bachfest entstanden: Dresden mobilisierte seine Reserven! Es war einfach kein Geld da, um die führenden auswärtigen Interpreten einzuladen, was normalerweise zu einem Bachfest dazugehört. Aber Dresden hat das sehr respektabel gelöst. Die Künstler haben ihre Konzerte weitgehend selbst finanziert und verantwortet. Ich habe dabei immer gesagt: das muss eine Ausnahme bleiben. Es kann nicht sein, dass die Verantwortlichen in Zukunft sagen: das ging doch in Dresden wunderbar, die machen das schon. Kreuzkantor Roderich Kreile hat sich sehr für das Bachfest engagiert, ich bin ihm sehr dankbar und froh, dass es am Ende trotz aller Probleme so gut geworden ist. Das Bachfest hatte eine besondere Farbe, und Dresden hat sie gut gestanden.
Wie sieht es mit der hiesigen Bachpflege momentan insgesamt aus?
Wir haben in Sachsen Spitzenensembles. Dabei gibt es keinen "sächsischen" Bach-Stil; nein, jedes Ensemble hat sein eigenes Profil. In dieser Vielfalt liegt auch eine große Chance. Schauen wir auf die institutionellen Chöre, zum Beispiel die Thomaner und Kruzianer, aber auch auf die freien Ensembles, den Dresdner Kammerchor, das Sächsische Vocalensemble - da finden wir überall profilbestimmende Aufführungen. Das Entscheidende aber ist, dass wir in Sachsen eine breite kirchenmusikalische Tradition haben, auch in kleineren Städten. Das sind dann keine CD-reifen Produktionen – aber in einer Zeit, wo sich die Aufmerksamkeit und die Förderung auf Spitzenkräfte konzentriert, finde ich es wichtig, dass man die Breitenwirkung der Musik nicht abbaut. Das ist unser eigentlicher Reichtum! Klar, wir haben in Dresden, Leipzig und Chemnitz tolle Konzerte. Aber die haben Hamburg und Stuttgart auch. Doch die Breite in einer guten, vertretbaren Qualität, das machen uns die anderen Bundesländer nicht nach. Mir liegt viel daran, dass die Voraussetzungen dafür erhalten bleiben, dass dieses Erbe lebendig bleibt.
Nun erleben wir in Görlitz gerade die Geburt einer neuen Chorakademie, die vom Bund mit einer siebenstelligen Fördersumme ausgestattet wird.
Es freut mich gerade für Görlitz, wenn so ein vielversprechendes Projekt entsteht. Immer, wenn sich so ein Ensemble neu etabliert, muss man schauen: an welches Publikum richtet sich das, mit welchen Künstlern arbeitet man. Das wird sich bei der Europäischen Chorakademie erst noch zeigen. Aber natürlich ist jede Aktivität in dieser Richtung zu begrüßen.
Ich muss aber auch sagen: musikalisch haben wir in Sachsen eine Zweiklassengesellschaft. Ich würde mir da mehr Balance wünschen. In der Hochqualität-Szene sollte mehr von selbst laufen, und mit den Mitteln sollte man lieber kreativen, jungen Leuten eine Chance geben. Das wäre mir sehr wichtig. Auf dem Land besteht die große Gefahr, dass sonst ein Ensemble nach dem anderen untergeht. Ich muss Ihnen doch nicht erzählen, was das auch politisch für Konsequenzen hat, wo die Leute dann landen.
Als letztes sollten wir uns unbedingt noch "Ihrer" Meißner Kantorei 1961 widmen, die Sie seit 37 Jahren leiten. Mit dem Konzert am Samstag werden Sie sich von diesem Amt einen Tag vor Ihrem 70. Geburtstag verabschieden. Lassen Sie uns doch kurz zurückblicken.
1981 habe ich die Leitung des Ensembles in einer schwierigen Situation übernommen. Sie war damals in einer existentiellen Krise. Meine Frau und ich sagten damals: ein Jahr wollen wir das aufrechterhalten, das ist jeden Einsatz wert. Dass daraus einmal 37 Jahre werden würden, daran hätten wir nicht denken können!
Die Meißner Kantorei hatte vor der Wende zwei Charakteristika: sie widmete sich einerseits der zeitgenössischen Kirchenmusik. Das Repertoire kreiste immer um christliche Themen und Hintergründe, und natürlich war der Chor innerhalb der Kirche angesiedelt. Zweitens war sie ein Raum, in dem man frei denken und reden durfte. Man traf Gleichgesinnte, es gab einen gewissen Schutz. Das war ein Faszinosum, von dem viele Mitglieder noch heute zehren.
1990 fiel dieses Alleinstellungsmerkmal weg. Es blieb die Neue Musik, und ich dachte damals: es kann sein, dass das jetzt alles zu Ende ist. Auf einmal konnten unsere Sänger überall hinfahren, da fuhren sie doch nicht auf eine Chorreise innerhalb der DDR! Glücklicher- und wunderbarerweise hat sich dann doch genügend Antrieb gefunden, weiterzumachen. Es war aber nie eine sichere Bank, man musste immer neue Herausforderungen bestehen. Die Herchet-Kantaten, Hans Darmstadt, Günter Neuberts "Laudate Ninive", Hans Peter Türks "Siebenbürgische Passionsmusik" – das sind Erlebnisse gewesen, die den Chor zusammenführten und prägten.
Vor zwei Jahren kündigte ich dann an, Ende 2017 aufzuhören. Ich sagte, natürlich werde ich nicht aufhören zu musizieren, aber die dauernde Verantwortung für die Kantorei möchte ich gern in andere Hände geben. Daraufhin entwickelte die Kantorei eine Vision für die Zukunft: die christliche Bindung war ihnen wichtig und die zeitgenössische Musik, beides sahen sie für die Zukunft als unverzichtbar an. Das hat mich natürlich sehr gefreut. Man prägt ja so ein Ensemble, die Leute leben damit, aber die Gründe, warum man mitsingt, sind ganz unterschiedlich. Dem einen gefallen einzelne Werke, dem anderen die Nachbarin im Chor, der dritte sagt: einmal pro Monat singen ist genau das, was ich mir zumuten möchte, und einer macht vielleicht auch gern neue Musik... Es war ja auch immer eine non-profit-Organisation. Ich bin den mitwirkenden anderen Dresdner Ensembles und speziell der Sinfonietta Dresden sehr dankbar, dass sie unsere Großprojekte durch großes Engagement und auch durch finanzielles Entgegenkommen unterstützt haben. Bis zur Stunde leite ich die Kantorei ohne Honorar. Das wird bei meinem Nachfolger Georg Christoph Sandmann, der übrigens schon als Student mitsang, anders sein.
Das ist das Stichwort: wie finanziert sich die Meißner Kantorei überhaupt?
Die Kantorei hat keinerlei institutionelle Förderung, keinerlei regelmäßige Geldeinnahmen. Es gibt einen Kreis von Spendern, die mal zehn Euro monatlich, mal 100 oder 500 Euro im Jahr geben. Als Chor, der a cappella singt, haben wir eine Rücklage aufgebaut, so dass ich immer mutig planen konnte und wusste: einmal kann's auch schiefgehen. So haben wir mit Mut und Gottvertrauen große Dinge in Angriff genommen, die in der Regel auch gut ausgegangen sind. Ein Beispiel? Das Weihnachtsoratorium von Herchet haben wir ohne Defizit abschließen können, obwohl uns beispielsweise die Siemens Musikstiftung die kalte Schulter gezeigt hat. Die Landeskulturstiftung förderte uns, die Kirche, das Kirchenchorwerk gaben etwas dazu. Ein kulturell sehr engagierter Bekannter fragte mich nach dem Konzert: wie viel haben Sie denn eingebüßt? Ich gebe Ihnen mal meine Telefonnummer, ich könnte ein bisschen helfen. Ich rechnete alles aus und rief ihn an, und einige Stunden später kam der versprochene Betrag.
Sehr gern hätte ich nachher diese Telefonnummer von Ihnen – aber vorher wollte ich Sie noch um einen Ausblick als zukünftiger 'elder statesman' der sächsischen Kulturszene bitten. Wo stehen wir momentan, und wo werden wir uns hin entwickeln?
Ich beschäftige mich sehr mit solchen Fragen und sehe mit großer Sorge, dass wir nicht nur in der Gesellschaft, auch in der Kirche, eine große Spaltung haben. Es gibt in der Kirche Freiwillige – ebenso wie außerhalb von ihr –, die sich aus christlicher Verantwortung für Flüchtlinge einsetzen, und dann gibts die anderen, die ihre Ablehnung dessen biblisch begründen und sagen: unsere Meinung ist die richtige, lasst uns hier ungestört unser bürgerlich-rechtschaffenes Leben führen. Ich finde es falsch, diese Leute dafür in die Schmuddelecke zu stellen. Wir müssen sie ernst nehmen und uns mit ihnen sachlich-argumentativ auseinandersetzen. Lassen Sie mich aber ganz klar sagen: wenn ich die Phrasen von Pegida auf dem Theaterplatz hörte, verstehe ich keinen, der sich da nicht umdreht und geht. Es gibt Probleme in Sachsen, die von der Politik lange Zeit nicht wahrgenommen wurden, und es gibt Leute, die das auffangen.
Uns fehlt ein gesellschaftlicher Diskurs darüber – aber der wird eben auch von Pegida vielfach nicht gewollt, das haben wir etwa bei den Veranstaltungen in der Kreuzkirche gesehen. Die Leute sagen ihre Meinung und gehen; sie sind nicht gewillt, ihre Ansichten zur Debatte zu stellen. Die Kultur könnte übrigens dabei eine ganz entscheidende Rolle spielen! Ich habe in Rumänien erlebt, wie Siebenbürger Sachsen, Rumänen und Ungarischstämmige, die sich im normalen Leben stark befehdeten, sich in unserem Orchester auf einmal zusammensetzten und tolle Musik spielten. Zehn Tage lange war ihr politischer Dissens kein Thema. Nur so können wir vorankommen, der Einheit der Gesellschaft, der gemeinsamen Entwicklung eine Chance geben. Es ist ein schmerzlicher Prozess, auch im kirchlichen Raum, solche Diskussionen auszuhalten. In dem Moment, wo wir uns nicht mehr argumentativ austauschen, sondern nur noch rechthaben wollen, uns Statements an den Kopf werfen und womöglich mit Gewalt versuchen, unsere Ansicht durchzusetzen, haben wir unsere Chance vertan.