Günter Neubert, zum Anlass Ihres 85. Geburtstags möchte ich mit Ihnen gern an einige biografische Stationen zurückgehen und würde auch gern zu ausgewählten Werken mehr erfahren. Von Ihnen sind ja inzwischen Werke aus sechzig Jahren im Konzert zu hören – und immer noch ganz frühe zu entdecken!
Was im Konzertleben erklingt, hängt ja auch immer ein bisschen mit der Persönlichkeit des Komponisten zusammen. Es gibt Frühentwickler: Friedrich Schenker etwa hat seine wilde Kompositionstechnik eigentlich schon immer gehabt. Und es gibt Kollegen, die in frühen Jahren vielleicht noch nicht ihren Stil hatten, aber bald einigermaßen gültige Kreationen hervorgebracht haben. Vor zwei Jahren führte das Mendelssohn-Kammerorchester meine »Streichermusik in drei Teilen« auf. Rolf Reuter hatte die 1969 mit der Staatskapelle Dresden im Aufführungsabend uraufgeführt. Im selben Konzert waren Komponisten vertreten, die waren 1969 noch nicht mal geboren. Und das Stück hat trotzdem überhaupt keine schlechte Figur gemacht! Gut, da guckt noch bisschen Bartok um die Ecke ... Aber die »Streichermusik« war jedenfalls keine Altlast.
Einige Ihrer Kollegen aus DDR-Zeiten, gerade aus Oppositionskreisen, sind nach der Wende verstummt. Waren denen die Reibungspunkte für ihr künstlerisches Tun verlorengegangen?
Das muss man anders sehen. Zu DDR Zeiten war es unheimlich schick, »dagegen« zu komponieren. Nehmen Sie mein Auftragswerk für den evangelischen Kirchentag in Hannover 1983, was für ein Pulverfaß war das. Man musste den Auftrag vom Ministerium genehmigen lassen, und ich hätte nie gedacht, dass die das durchwinken. Aber sie taten es, weil sie gleich auch das Westgeld eingesteckt haben und mir das Honorar in DDR-Mark gaben. Ich hatte dann in Hannover keine 50 Pfennig, um die Parkuhr zu bezahlen. Der Text für »Laudate ninive« entstammt dem Buch Amos in der Bibel: dort sind am Anfang die Übertretungen und Sünden der Einwohner von Ninive formuliert. »Ich mag eure Versammlungen nicht riechen«, heißt es da. Christfried Brödel führte das Werk mit dem Großen Rundfunkorchester und der Meißner Kantorei später ausgerechnet am 17. Juni 1989 in der Thomaskirche auf. Die Orchestermusiker kamen zu mir:« Herr Neubert, können wir einen Umschnitt kriegen?« Aber nach der Wende war so etwas nicht mehr schick! Welchem Komponisten will man verdenken, dass er nichts mehr in der Richtung komponiert?
Jetzt sind wir thematisch schon mitten im Geschehen ... Dabei wollte ich doch ganz leichtfüßig einsteigen und Sie erst mal nach Ihrem populärsten Werk, der »Weihnachtsgans Auguste«, ausfragen.
Ja, »mein Bolero«. Der Musikwissenschaftler Frank Schneider hat mir mal gesagt, das Stück wäre das meistgespielte Stück eines lebenden deutschen Komponisten. Früher war das mal Ottmar Gersters »Festouvertüre 1948«, ein entsetzliches Stück, es musste bei jedem Festakt gespielt werden.
Und diesem Stück läuft nun eine Gans den Rang ab. Erzählen Sie mal, wie es eigentlich zu dem Auftrag kam?
Der damalige Chefdirigent des Loh-Orchesters, Horst Förster, hatte mich schriftlich angefragt, ein Werk für Chor und Orchester sollte es werden, zu Weihnachten. Es dürfte aber bitte »nichts Christliches« sein! Da antwortete ich ihm, dass mir nichts einfällt. Ein Dresdner Freund schenkte mir dann irgendwann die Tiergeschichten von Friedrich Wolf. Die Geschichte mit der Gans interessierte mich gar nicht so sehr, die Figur des Opernsängers Luitpold Löwenhaupt umso mehr. Wenn Sie in der Opera buffa zu Hause sind, werden Sie bei ihm immer mal Anklänge an Lortzing usw. hören. Ich dachte, hier verlierst du dein Gesicht nicht!
1973 war die Uraufführung in Nordhausen, eine blanke Katastrophe. Die hatten keinen Kinderchor, die wenigen Erwachsenen sangen Quintentremolo. Ich habe das Stück damals begraben. Aber dann schrieb mir der Chefdramaturg des Gewandhauses, Johannes Forner, Gerhard Bosse wolle das Stück gern mit seinem Bach-Orchester und dem Leipziger Kinderchor aufführen. Das hatte einen Bombenerfolg. Seit 1976 wird die »Weihnachtsgans« nun in ganz Deutschland gespielt, an der Staatsoper Berlin, in Magdeburg, mehrmals in Dresden. Nur Leipzig hat es seit 23 Jahren nicht mehr gemacht.
Der damalige Leipziger Chordirigent Gunter Berger, hat die »Weihnachtsgans Auguste« inzwischen mit seinem neuen Chor in Dresden aufgeführt.
Ja, ich glaube, in Dresden ist die Gans inzwischen am häufigsten erklungen. Sie sollte auch in Leipzig wiederaufgenommen werden. Aber dann gibt es inhaltliche Umplanungen, irgendwann kommt da ein neuer Chorleiter ans Gewandhaus, und der sagt mir, er kann die Gewandhausmusiker für die Aufführungen nicht bezahlen.
???
Ich habe den Gewandhausdirektor gefragt. Ist leider wirklich so. Ungleich mehr habe ich übrigens der Dresdner Philharmonie zu verdanken. Ich erinnere mich an unzählige tolle Erlebnisse. Jörg-Peter Weigle hat zum Beispiel 1988 meine »Sinfonia infernale«, die 2. Sinfonie, im Anrechtskonzert gespielt, anschließend mit nach Duisburg und zum Prager Frühling genommen. Das Stück hört so auf, wie Beethovens »Neunte« anfängt. In Magdeburg haben sie das mal ohne Pause gemacht; was meinen Sie, wie die Leute sich anguckten!
Umso enttäuschter bin ich, dass seit Michael Sanderlings Amtszeit der Kontakt abgebrochen ist. Die letzte Partitur, die ich schickte, hat er nicht einmal angeguckt. Dabei hatten wir nach der Wende fantastische Aufführungen, zum Beispiel »Animal maris cantans«, »Der singende Fisch«. für Kinderchor, Sprecher und Orchester. Der Kinderchor muss 32 Schlaginstrumente spielen. Unter Jürgen Becker hat das der Chor 2005 grandios gemacht. Das Werk ist anspruchsvoller, einheitlicher in der Kompositionsstruktur als die »Weihnachtsgans«, eigentlich das bessere Stück. Naja, Ravel würde sich auch im Grab rumdrehen, wenn man ihm sagte, es sei von ihm nur der »Bolero« übriggeblieben.
Wenn wir übrigens noch weitere fünfzehn Jahre vor die alles überschnatternde Gans zurückgehen, finden wir Ihr erstes Kammermusikwerk. Datiert ist es auf 1959, irgendwo habe ich gelesen, es sei erst 2006 in Dresden uraufgeführt worden?
Diese Stücke sind eigentlich im Kompositionsunterricht bei Wagner-Régeny entstanden. Ich hatte im letzten Tonmeister-Jahr Komposition belegt bei ihm. Da guckt Prokofjew um die Ecke, übrigens mit dem »Triumphmarsch«, ohne wenigstens einen kleinen Marsch ging es eben nicht damals. Aber 2006 stimmt nicht, die Stücke wurden noch zu DDR-Zeiten für den Berliner Rundfunk aufgenommen. Meine Tochter Gunda Kumbier hat mir dann zu meinem 80. Geburtstag die Wiederaufführung geschenkt, im Pianohaus Kirsten. Auch ein neueres Stück erklang da, »Irini«. Das wurde tatsächlich an dem Tag uraufgeführt.
Sie erwähnten Ihren Kompositionsunterricht bei Wagner-Régeny. Arbeiteten Sie damals in Leipzig und fuhren zu den Vorlesungen immer nach Berlin – oder wie funktionierte das?
Im letzten Studienjahr war ich noch in Berlin. Dann folgte ein Assistenzjahr in Berlin beim Rundfunk. Ich wollte eigentlich auch gern dort bleiben. Berlin, das waren die Orchester, der Rundfunk, Fernsehen, Schallplatte, DEFA, Gelegenheiten zu muggen. Leipzig war doch ein verlorenes Dorf dagegen! Aber es war eben damals so, entscheidend war, wer den Zuzug in Berlin hatte. Die drei entsprechenden Kommilitonen blieben in Berlin, und ich musste gehen. Nach 40 Jahren habe ich kapiert, warum das Schicksal damals so gearbeitet hat. In Berlin sind nämlich nach der Wende von 40 Tonmeistern 38 entlassen worden. Und in Leipzig gab es den MDR ... der war meine Rettung. Aber zurück zu Wagner-Régeny. Der hatte donnerstags sein offenes Kompositionsseminar. Wer Tonsatz, Kontrapunkt, Instrumentation und Formenlehre beherrschte, durfte vorbeikommen. Über viele Jahrzehnte hat er so mehrere Komponistengenerationen der DDR ausgebildet. Als ich nach Leipzig musste, hatte ich mir ausbedungen, dass ich einen Tag pro Woche nach Berlin zum Studium durfte. In Berlin Schönefeld wurde kontrolliert, wer reindurfte in die Stadt. Da hatte ich dann immer einen Zettel dabei, dass ich zum Kompositionsunterricht fuhr.
Wagner-Régeny hat uns ganz am Anfang gesagt: ich bin mir mit meinem Freund Boris Blacher einig, dass ein Komponist mindestens zehn Jahre braucht, bis er sich einigermaßen vernünftig äußern kann. Ich dachte, das ist ja unglaublich! Dann verbrachte ich fünf Jahre Gasthörerschaft bei ihm, dann zwei Jahre auf einer außerplanmäßigen Aspirantur. Und dann drei Meisterschülerjahre. Da kamen genau die zehn Jahre zusammen. Die Vorlesungen fanden an der Hochschule statt, als Meisterschüler hatten wir Unterricht bei ihm zuhause, da gabs immer ein Glas Wein ... Und er rauchte, was ich bald auch tat.
Wie sah in den sechziger Jahren Ihr Alltag als Tonmeister aus? Ein Foto von Evelyn Richter zeigt Sie gemeinsam mit Paul Dessau und dem kürzlich verstorbenen Paul-Heinz Dittrich.
Es war ja in Leipzig bald bekannt, dass ich mich für zeitgenössische Musik erwärmte. Ich habe dann mit tollen Leuten gearbeitet, Dallipiccola, Henze, Nono, Lutoslawski, Penderecki ... Und eben auch Dessau. Der war unter Bruno Walter Kapellmeister gewesen, hat also auch das RSO und das Gewandhaus selbst dirigiert, da habe ich ihn als Tonmeister betreut und auch die Proben mitgeschnitten, mit seinen Werkerklärungen.
Meinen Sie, dass es diese Bänder beim Rundfunkarchiv noch gibt?
Ach, dafür hat sich damals niemand interessiert. Die habe ich hier bei mir zu Hause.
Jetzt aber noch mal zu Ihren eigenen Werken, zu den inhaltlich gewichtigeren. Ein riesiger Korpus an größeren und kleineren Instrumentalwerken wartet da, auch viel Vokalsinfonik, an den Werktiteln lässt sich Ihre jahrzehntelange Beschäftigung mit ernsten, ewigen Dingen ablesen. »An die Zukunft« (auf einen Text von Harald Gerlach). »Von menschlichen Schwächen« (nach Martin Luther). »Hymne an die Menschheit« (nach Hölderlin). Wie finden Sie zu solchen Inhalten? Können Sie Ihre Intentionen etwas beschreiben?
Naja, ich vertrete eben eine christliche Weltanschauung und meine, dass die Bibel das Leben der Menschen, ob sie das wollen oder nicht, wesentlich skizziert und beeinflusst hat. Ich bin der Meinung, wenn man mehr danach leben würde, würde es uns allen besser gehen. Stichwort Nächstenliebe etwa, die ist besonders am Boden heute, eigentlich noch mehr als in der vorhergehenden Gesellschaftsordnung. Also, ich ergänze mal Ihre Aufzählung noch etwas: »Gewaltig wie der Tod.« Die Texte waren aus dem Hohelied der Liebe. Der Auftrag kam damals vom Rat des Bezirkes Gera, da habe ich also lieber geschrieben: »auf hebräische Texte« ... Herrlich war es, als nach der Uraufführung ein Rezensent aus Jena auf mich zukam und sagte, »Wissen Sie eigentlich, dass diese Texte aus der Bibel sind?«
Immerhin, ich hatte damals oft das Glück, Kompositionsaufträge zu bekommen. Für den Deutschlandsender, ab 1971 die »Stimme der DDR«, entstand zum Beispiel das »Notturno für 19 Streicher«. Da musste ich mich verantworten, weil ich ein Lutherzitat untergebracht hatte. 1983 entstand »Von menschlichen Schwächen«, Luthers Tischreden, Theo Adam hat die damals unter Hartmut Haenchens Leitung im Gobelinsaal der Gemäldegalerie uraufgeführt. Die Philharmonie führte 1990 meine Orchesterlieder nach Klopstock auf, »Das neue Jahrhundert« betitelt. 1990 kam auch ein Auftrag aus Hannover, vom Staatsorchester unter George Alexander Albrecht, die Orchesterlieder nach Ingeborg Bachmann, »... jeder Herkunft zu leben«. Da denkt man, Bachmann hat in der DDR gelebt: »Wir gehen, die Herzen im Staub / und lange schon hart am Versagen.« Das haben die in Hannover nicht begriffen: das war eine Uraufführung, die richtig schiefging. Dann sollte das in Magdeburg noch mal kommen, da hat der Intendant das ganze Konzert abgesagt, »zu zeitgenössisch«. Naja. Dann gibts drei Oratorien, einmal das für Hannover 1983, »Laudate ninive«, dann ein Oratorium für die 800-Jahrfeier der Stadt Dresden, uraufgeführt von Markus Leidenberger, auf Texte aus Jesaja und von Karl May. Die wollten einen Zeitgenossen haben, und mir fiel kein anderer ein, der Jesaja standhalten konnte. Und ein »Friedensoratorium« (der Titel ist ihm verpasst worden), »Da pacem domine«. Dann das Ballett »Das verschenkte Weinen«, das zu einem weiteren Auftrag führte, diesmal von der Leipziger Oper. »Persephone oder Der Ausgleich der Welten«. Nachdem Udo Zimmermann das in Leipzig immer wieder vor sich hergeschoben hatte, hat er es dann 2001 konzertant aufgeführt. Die »Hymne an die Menschheit«, die Sie erwähnten, ist übrigens überhaupt nicht aufgeführt worden. Die hatte ich 1987 für das Gewandhaus geschrieben. Die Partitur hat nie jemand angeguckt, glaube ich. Bis heute ist das Werk im Schrank geblieben.
Oh, wie kam’s?
Die Hölderlin-Texte! Kurt Masur sagte, das verstehen die Leute doch nicht. Ich sagte, da dürfen Sie auch kein Mozart-Requiem mehr aufführen. Aber das war das Todesurteil, diesen Widerspruch konnte er nicht vertragen.
Im Gewandhaus hätte nächsten Sonntag auch eine ganz neue Komposition von Ihnen erklingen sollen. Wissen Sie, wann das Konzert nachgeholt wird? Und können Sie schon etwas über das Werk verraten?
Ich hatte in den letzten Jahren zwei Kompositionsaufträge vom Gewandhaus bekommen: einmal zum 200jährigen Bestehen des Gewandhausquartetts und zu meinem 80. Geburtstag ein Werk für Bläserquintett. Ich dachte eigentlich, dass die die beiden Stücke wieder aufführen könnten, aber sie wollten unbedingt was Neues haben. Da habe ich mich breitschlagen lassen, weil: ich muss doch Geld verdienen für die Steuer! Jedenfalls, nun »Schatten – Konzert für Nonett«. Nonett deshalb, weil im Verlauf des Stücks alle Instrumente, sogar die 2. Geige, Solopassagen haben. Neben meinem Werk sollten Dessau und Hindemith erklingen ... und Grieg, ich war ja hier in Leipzig dreieinhalb Jahre Präsident der Grieg-Begegnungsstätte. Wagner-Régeny ist im Gewandhaus leider durch den Rost gefallen. Aber auch die Grieg-Begegnungsstätte hatte ein Konzert geplant, das 2. Streichquartett von mir und ein Quartett von Wagner-Régeny. Da habe ich mich sehr gefreut, dass ich meinem alten hochverehrten Kompositionslehrer auf die Bühne helfen konnte. Aber auch das Konzert ist nun abgesagt worden. Letztes Jahr waren die erwähnten Klavierstücke die einzige Aufführung, die ich überhaupt hatte. Aber ich will ja auch kein »Beschränkungskonzert«, wo man Abstand halten muss und kein Glas Wein trinken kann.
Freuen wir uns einfach darauf, dass diese Konzerte irgendwann nachgeholt werden.
Ich hör auch gern von oben zu, wenn ich vorher den Abflug machen sollte!
Das Gespräch führte Dr. Martin Morgenstern