Allgemein |

Eine Welt, wie gemacht für Wes Anderson

von Dr. Martin Morgenstern

Die Bitte des Sächsischen Musikrats, das bevorstehende Jubiläumskonzert des Dresdner Bundinstrumentenorchesters (»B.I.O.«) mit einer kurzweiligen Ensemblegeschichte anzukündigen, klang völlig harmlos. Wohl hatte ich als ehemaliger Geigenschüler der Bezirksmusikschule »Paul Büttner«, des späteren Heinrich-Schütz-Konservatoriums, immer schon mal die Klänge diverser Mandolinen- und Gitarrenensembles bei Wettbewerben, Konzerten und Musikschulveranstaltungen vernommen. Aber musikalische Berührungspunkte mit dieser Welt gab und gibt es für hohe Streicher kaum. Die Familie der »Zupfer« (so bezeichnet die ehemalige B.I.O.-Orchesterleiterin Diana Käppler ihre Spezies) bleibt meist unter sich. Bekanntlich mischen sich Gitarristen und Mandolinisten nur ganz ausnahmsweise in ein klassisches Sinfonieorchester, als Reminiszenz an längst verwehte Zeiten, da ein Bursche seiner Liebsten des Nachts sehnsüchtig Serenaden darbrachte.

Das B.I.O. näher kennenzulernen, sein Repertoire und seine Geschichte zu studieren und einen kleinen Text zu verfassen, dafür hatte ich mir zwei, drei Tage gegeben. Ha! Allein das Gespräch mit Birgit Pfarr, der Leiterin des Ensembles seit 1994, hätte mich misstrauisch machen müssen. Unschuldig begann sie, von Höhepunkten der Orchestergeschichte zu erzählen, von diesem Konzert in der Lukaskirche, als über hundert Mitspieler auf der Bühne miteinander musizierten, von ihrem Kummer, dass keine Firma mehr die passenden Plättchen für das Mandolinenspiel produziert oder von der »Dresdner Schule« des Mandolinspiels, die der Ehemann ihrer Lehrerin Vera Weiße verfasst hatte, und die seitdem die Grundlage der Konservatoriums-Ausbildung in Dresden darstellt. Leise fasziniert begann ich in den folgenden Tagen, mich mit den Unterschieden von Bassgitarren und Gitarrenbässen, mit Bauweisen von Kastenhalslauten und neapolitanischen Mandolinen zu beschäftigen. Und immer mehr und immer neue Kuriositäten und Details über die Protagonisten dieser Welt spülte das Internet mir an.

Zum Beispiel der 1893 in Griechenland geborene Jorgo Chartofilax, den das Schicksal 1922 nach Dresden verpflanzte. Hier unterrichtete er einen großen Kreis von Schülern, bevor er nach dem zweiten Weltkrieg in sein Heimatland zurückging, Verbleib und Sterbedatum unbekannt. Die Sächsische Landesbibliothek verwahrt eine Schellackplatte von 1928, auf der das »Mandolinen-Orchester Chartofilax-Estudiantina« eine »Spanische Serenade« zupft. Eine Anzahl Partituren für Zupforchester bzw. »Volkskunstorchester« sind von Chartofilax erhalten, an denen der kulturpolitische Zahn der Zeit inzwischen genagt hat; darunter »Komsomolzenlied«, »Ach, Nastasia« (ein sowjetisches Tanzlied) oder »Der Werktätige«. Oder nehmen wir Chartofilax’ Dresdner Schüler Gerd Lindner-Bonelli: Der studierte in Weimar, lehrte später selbst an der Berliner Musikhochschule »Hanns Eisler«. Oder Siegfried Behrend, der »größte Gitarrist seiner Zeit«, der seine Karriere als Solist mit Chartofilax begann. 1957, da war er Anfang zwanzig, war er als Gastsolist beim Bundinstrumentenorchester im Hygienemuseum beim »Konzert der Volksinstrumente« zu Gast. Später spielte er vor dem Schah von Persien und dem japanischen Kaiser, leitete zweiundzwanzig Jahre lang das »Deutsche Zupforchester« und machte sich für die Einrichtung von Gitarre-Professuren an deutschen Musikhochschulen stark. Neoklassizistische Komponisten wie Kurt Schwaen (1909–2007), Baldur Böhme (1932–2008), der Pfitzner-Schüler Hermann Ambrosius (1897–1983) oder Antonius Streichardt (1936–2014) und – natürlich – Dmitri Schostakowitsch sind immer noch starke Zugpferde in hiesigen Zupforchester-Programmen, während etwa das »Zupforchester Wuppertal« (gegründet 1919) eher Namen wie Nino Rota, Astor Piazzolla, John Dowland oder Hans Zimmer auf den Speisezettel setzt. Nächtliche Youtube-Streifzüge endeten auch schon einmal bei gitarrespielenden nordkoreanischen Knirpsen; beängstigend perfekt choreographierte Ensemblestücke bieten sie im Staatsfernsehen dar, auf Instrumenten, die sie gefühlt weit überragen …

Zurück nach Dresden in die Mandolinenszene, die hier wesentlich geprägt ist vom Wirken der Familie Weiße. Victor Weiße, 1898 in Budapest geboren und auf dem Weißen Hirsch aufgewachsen, interessierte sich schon als Jugendlicher für die Mandoline. Neben seiner Ausbildung zum Porzellanmaler brachte er sich das Gitarrespielen bei, besuchte Privatstunden in Musiktheorie und wurde schließlich 1934 von der Reichsmusikkammer als Fachlehrer für Mandoline und Gitarre zugelassen. Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges und seiner Einberufung hatte er an fünf Dresdner Grundschulen und der Mädchen-Berufsschule auf der Dresdner Haydnstraße mehrere Mandolinenorchester aufgebaut, setzte diese Arbeit nach dem Krieg fort und entwickelte die ersten Lehrpläne für das Fach Mandoline an Volksmusikschulen. 1951 spielte seine »Bundinstrumenten-Musiziergemeinschaft« erstmals öffentlich: das gilt als das Gründungsdatum des heutigen Bundinstrumentenorchesters. In den sechziger Jahren gab der Mandolinen-Papst schließlich Instrumentalunterricht an der Dresdner Musikhochschule. Seine Schülerin und spätere Frau brachte seine Mandolinen-Methodik in drei Bänden handschriftlich zu Papier, seitdem wird von Lehrer zu Schüler tradiert. Birgit Pfarr nutzt Weißes Methodik ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung zum Teil immer noch, ist sich aber auch der Tatsache bewusst: »Wir sind damit ein gallisches Dorf. Weißes Spielmethoden führen auf vergleichenden Wettbewerben immer wieder zu Irritationen, worauf ich meine Schüler inzwischen vorbereite. Lehrer und Juroren aus anderen Städten haben teilweise eine andere Klangerwartung und können mit Weißes Anleitung, wie das Handgelenk zu halten ist oder wie man das Plättchen hält, manchmal nicht viel anfangen …«

In der Tat ist die Szene im nun schon dreißig Jahre wiedervereinten Deutschland immer noch überraschend divers. Die Mandolinistin Ariane Zernecke schrieb in ihrer Examensarbeit »Die Mandoline in Deutschland« (3. Auflage 2002): »Bis 1991 erlernte ich […] nach der Weimarer Methodik das Mandolinenspiel. […] Als ich nach der Wende in Westberlin mein erstes kammermusikalisches Mandolinenkonzert hörte und in den Bibliotheken mir unbekannte Literatur entdeckte, die mit mir unbekannten Spielanweisungen versehen waren, entstand eine große Verwirrung. Das Instrument hatte in den vergangenen 40 Jahren in der BRD eine völlig andere Entwicklung genommen. Ich begriff, dass die Mandoline eine reiche Geschichte besaß, die ich nicht kannte.« Nun sind die Zeiten längst passé, da etwa in »Ein Kessel Buntes« ein »Jugendzupforchester« auftrat, Mädchen in rotblaukarierten Schürzchen den Volkskunstsänger Dmitrij Mucharski bei einem russisch geschmetterten Volkslied begleiteten. Aber die Spieltechniken und das Repertoire in Ost und West unterscheiden sich offenbar noch immer. Was hätte Victor Weiße wohl zu einem mandolinistischen Tausendsassa wie dem Kalifornier Chris Thile (sprich Þ'i:li:) gesagt, der 2017 in der Hamburger Elbphilharmonie gefeiert wurde, und dessen Youtube-Videos (etwa »Quarter Chicken Dark« von seinem »Ziegenrodeo«-Album, mit dem Cellisten Yo-Yo Ma) Millionen von Klicks eingesammelt haben? Lustig, sich diese Begegnung vorzustellen.

Das Jubiläumskonzert des B.I.O. wäre einfach der beste Anlass, alte und neue Facetten dieser Welt kennenzulernen. Anstatt hier die Höhepunkte aus siebzig Jahre Orchestergeschichte zu referieren (auf die Gefahr hin, Unkundige zu langweilen und auf B.I.O.-Insider hoffnungslos ungebildet zu wirken), lautet meine Empfehlung schlicht: schalten Sie sich am 26. Juni 2021 dazu, wenn das kleine Team Birgit Pfarr und Matthias Weiße («der Sohn«) online auf Youtube eine kleine Geschichte des Bundinstrumentenorchesters in musikalischen Beispielen zum Besten geben werden. Einige der hier kurz angerissenen Namen und Themen werden Sie in diesem Konzert wiederfinden. Und wenn Sie dann angefixt sind: für den 9. Juli 2022 ist endlich ein großes Live-Konzert mit dem Arbeitstitel »Siebzig plus« geplant. Bis dahin schreit die facettenreiche Geschichte der Mandoline um die an sich ja schon irgendwie kuriosen Namen Chartofilax, Bonelli, Ambrosius & Co. eigentlich nach einer Verfilmung. Der Schauspieler Bill Murray in seiner Rolle als mandolinenverrückter Victor Weiße? Wes Anderson, bitte übernehmen Sie.

 

Gründungsorchester 1952
Foto: Archiv B.I.O.
© Frank Höhler Das B.I.O. 2019 auf der Sommerbühne des HSKD
Foto: © Frank Höhler
Orchestergründer Victor Weiße am Pult
Foto: Archiv B.I.O.

Eine kleine Geschichte des B.I.O. in musikalischen Beispielen auf  YouTube am 26. Juni um 16.00 Uhr

Werbung