Rezension |

Die Stimme bekommt man nicht klein

Mit Anstand und Abstand betritt die »a cappella«-Fangemeinde am 24. September die Peterskirche: Das Ensemble amarcord hat ein »Lebenszeichen« ausgerufen, ein Sonderkonzert im Stile des eigenen Festivals »a cappella«. Ein Abend, an dem sechs Leipziger Vokalensembles an einem Ort vor Publikum singen können – und dieses hat es sich natürlich nicht nehmen lassen, zu kommen. »Schön, dass es sein kann!«

Das Publikum ist inmitten geschäftigen Treibens vor Konzertbeginn in freudiger Erwartung und geradezu entspannt; es wird im Laufe des Abends rücksichtsvoll und unaufgeregt alle für das Konzert notwendigen Hygienemaßnahmen und Regelungen umsetzen. Es geht also, so ein Konzert. Die mit Abstand aufgestellten Stühle ergeben ein aufgeräumtes Bild im Kirchenraum, beim Eröffnungsapplaus könnte man das Gefühl haben, ein paar Hände weniger zu hören, als man es vom letzten Konzert hier noch im Ohr hat … Aber die Vokalmusikfans sind auch daheim oder unterwegs dabei – ein Livestream macht das Verfolgen dieses groß angelegten Konzertabends für viele Gäste mehr möglich. Womöglich auch für Gäste, denen es eigentlich gar nicht möglich ist, einem solchen Konzert beizuwohnen … Unter anderem das St. Elisabeth-Krankenhaus hat den Livestream von »Lebenszeichen« bewusst für seine Patienten verfügbar gemacht.

So manches könnte man im Rahmen eines solchen »Lebenszeichens« thematisieren. Die Gastgeber vom Ensemble amarcord wollen trotz allen bewussten Schwierigkeiten durch dieses Konzert vor allem ein ermutigendes Lebenszeichen der singenden, der künstlerischen Zunft (und ihrer Zuhörer!) geben. »Uns kriegt man so schnell nicht klein, das ist mal Fakt«, sagt amarcord-Bass Daniel Knauft in der ersten Moderation, und prompter, empathischer Applaus ist die Bestätigung des Publikums. Die amarcords eröffnen den Abend mit John Dowlands »Time Stands Still«, denn auch wenn es darin grundsätzlich um Liebe geht, so stand für die Kultur(schaffenden) doch in diesem Jahr eine Zeit lang wohl wirklich die Zeit irgendwie still. Ob sie das sich anschließende Madrigal von Luca Marenzio wegen seiner überraschenden Wendungen ins Programm genommen haben? Wie es auch sei, der Klangausdruck und die frischen Harmonien von Samuel Barbers »The Coolin« aus dem Jahr 1940 jedenfalls sind bei amarcord bestens aufgehoben. Der erste Programmpunkt des Abends schließt als feines Hörerlebnis – und das ist ja erst der Auftakt.

Die alsdann auftretenden jungen Damen von Sjaella sind immer für eine Überraschung gut. Ein Eckpfeiler ihres Weges weit nach oben in der Vokalmusikszene ist eben diese Nonchalance, mit der sie so anspruchsvolles Material wie a cappella arrangierte Stücke einer Barockoper von Henry Purcell präsentieren. Spätestens mit »One charming night« und »Hush, no more« ist man aber vollkommen in der Sjaella-Welt angekommen beziehungsweise versunken – »Hush, no more« ist mit solcher Passion gesungen … Das Herz geht einem auf. Und dann gibt es auch noch ein Lied aus Finnland in einem Arrangement aus der Feder der Latvian Voices – von Sjaella mit allen dazugehörigen klanglichen und sprachlichen Facetten sowie entsprechender Performance dargeboten, als hätten sie es selbst und nie etwas anderes gemacht. Großer Jubel.

Die Schauspielerin Sophie Lutz macht den ersten von zwei Exkursen des Abends in andere Künste. Sie trägt einen Text des Dramatikers Thomas Brasch vor. »Warum spielen?« stammt aus den 80ern, ist in seinen Antworten aber ungebrochen aktuell, vieles lässt sich – Warum singen? – genau auf das Hier und Heute, das Anliegen des Abends beziehen: Arbeiten und Arbeit haben, Ausleben, Aufrütteln, Nicht-Schweigen, und original im Text sogar das: »um ein Lebenszeichen zu geben«.

Die erste Hälfte des Abends beschließt dann das Ensemble Voicemade. Das jüngste Ensemble des Konzerts – vor drei Jahren gegründet – hat sich bereits einen vollen, gut greifbaren Klang und einiges dynamisches Gespür angeeignet, das ihren ausgewählten Stücken zu Gute kommt – und mit Sopranistin Lili Hein noch ein As im Ärmel. Mit diesem Auftritt hat die Gruppe einige neue Herzen gewonnen.

Nach der Pause erlebt das Konzert noch einige beachtenswerte Momente. Angefangen beim Auftritt des Calmus Ensembles, dessen Programm sehr bewusst zusammengestellt wurde: Die Vertonung des 23. Psalms (»Der Herr ist mein Hirte«) vom viel in Leipzig wirkenden Komponisten Wilhelm Weismann hatte das Ensemble noch einen Tag vor dem Lockdown im März gesungen. John Taveners »Prayer for the healing of the Sick« wiederum war eines der ersten Stücke, die sie wieder zusammen geprobt haben, und wird an diesem Abend allen Erkrankten gewidmet. Nicht nur diese Konzeption ihres Programms muss man respektvoll loben: Trotz zweier relativ frischer Ensemblemitglieder merkt man dem Calmus Ensemble seine große Erfahrung sofort an – es fesselt einen dieser außerordentlich kultivierte Klang, in dem noch dazu alle fünf Stimmen ihren ganz persönlichen Raum haben. Was in beiden Kompositionen auch bestens zur Geltung kommen kann. Das beeindruckt. Und als Krönung dieses Programmblocks gibt es gewissermaßen noch eine Zugabe: Ein gemeinsames Singen ist im Rahmen der Veranstaltung nicht für alle Künstler des Abends möglich, auch wenn sie das nur zu gerne gemacht hätten. Immerhin Calmus und amarcord können sich aber gemäß des Hygienekonzepts für den Abend die Bühne teilen, und so singen also dann 10 Stimmen gemeinsam »Da pacem Domine« in einer Motettenfassung des Thomaskantors Johann Hermann Schein. Es ist ein stimmstarker Genuss.

Die zweite Rezitation des Abends gebührt dem Dichter Adel Karasholi, geboren in Syrien und seit 60 Jahren in Deutschland als Schriftsteller und Übersetzer tätig. Karasholi bereichert den Moment und den Abend mit zwei wunderbaren poetischen Texten: Die »Legende vom ständigen Regen« erzählt liebevoll davon, dass es in Sachsen nur noch aus grauen Wolken regnet, weil das Himmelblau irgendwann in die Augen einer jungen Frau übergegangen ist. Es ist ein autobiographisches Textstück, das Karasholi vor mehr mehr als 55 Jahren schrieb, an diesem Abend aber zum allerersten Mal öffentlich vorträgt. Der zweite und ganz aktuelle Text »Trotz« handelt davon, sich nicht mehr über die selbstzerstörerischen Tendenzen der Welt aufzulehnen, sondern einfach nur noch das Leben genießen zu wollen – und »meinem Nachbarn ‚Guten Morgen‘ zu sagen und freundlich zuzulächeln«. Solchen Worten kann man nichts mehr hinzufügen.

Musikalisch ist aber glücklicherweise noch nicht alles gesagt. Der Programmblock des im Thomanerchor verwurzelten Ensemble Nobiles enthält dabei einige persönliche Handschriften: Tenor Christian Pohlers etwa steuert zwei gekonnte Arrangements für »Die Gedanken sind frei« und »Hoch auf dem gelben Wagen« bei, aber auch die beiden anderen Stücke – eines seines Ensemblekollegen Paul Heller und eines von Jean Sibelius – stehen dem klanglich in nichts nach. Schön sind schließlich auch hier die Ansagen: Das Quintett plädiert dafür, das in Leipzig und der Kunst Gewachsene zu bewahren und positiv nach vorn zu blicken, und sendet auf Englisch auch Grüße an alle in anderen Ländern zuhörenden Vokalmusikenthusiasten und Kollegen, die überwiegend wohl nicht das – ja – Privileg haben, so gemeinsam musizieren zu können, wie die heute Anwesenden.

Nach einem abschließenden Dank (und Kunst-Appell) amarcords wird der Auftritt von Quintense – der Brückenschlag zum A-cappella-Pop-Netzwerk Leipzigs – ein wirklich gelungener Abschluss des Abends. Denn das Quintett hat wunderbar gefühlvolle Pop-Stücke mitgebracht, deren wohliger, aber nicht zu glatter, sondern schön schillernder Klang tolle und herzliche Töne hervorbringt. Auch in den Ansagen und der Botschaft des letzten Liedes des Abends, Reinhard Meys »Viertel vor Sieben«.

Als zum Schlussapplaus anschließend 32 maskierte Sängerinnen und Sänger zusammen auf der Bühne stehen, ist das ein etwas seltsames Bild. So ganz ohne seine Umstände ist der Abend eben doch nicht zu sehen. Aber: Sie stehen alle da, auf der Bühne – sie stehen und sie singen noch immer, und wie sie da stehen, strahlt es diese Kraft und Nähe aus, wie es eben nur die Kunst und ihre Künstler können. Das hat letztlich viele erreicht. Etwas über 300 Gäste konnte die Peterskirche an diesem Abend aufnehmen – der Livestream wurde gar über 1.500-mal während des Konzertes aufgerufen und ist nun auf Youtube über die Homepage des Festivals a cappella weiter aufrufbar. Der große Jubel im Kirchenraum spricht für sich und auch digital flogen die Herzen. Ein Stück weit war es wie ein reguläres Konzert bei »a cappella«. Aber doch auch anders – sagen wir vielleicht: besonders. Ein denkwürdiges gemeinsames Konzert(geben) – doch, bestimmt.

 

Lebenszeichen Quintense
Foto: Martin Jehnichen

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