2014 jährte sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum einhundertsten Mal. Der in Dresden geborene Komponist Torsten Rasch hat zu diesem Anlass ein großes Oratorium geschrieben, das sich mit der grauenvollen Zerstörung einer Stadt auseinandersetzt, und dessen deutsche Erstaufführung heute Abend in Chemnitz ansteht. In Chemnitz?
Torsten Rasch, ein in Dresden geborener Komponist, Kruzianer, schreibt ein Oratorium, das im Gedenken an die Zerstörung einer Stadt geschrieben ist, ein Großwerk für Soli, Orchester und Chöre, darunter ein Knabenchor... Da assoziiert man sofort eine Traditionslinie, die mit "Wie liegt die Stadt so wüst" beginnt und zuletzt Lera Auerbachs "Requiem" für die Stadt Dresden... Aber nein - in »A Foreign Field« geht um Chemnitz! Herr Rasch, das müssen Sie erklären.
Es gäbe zwei mögliche Antworten: die naheliegende ist, dass ich über die letzten Jahre eine intensive Beziehung zur Robert-Schumann-Philharmonie und ihrem GMD Frank Beermann aufgebaut habe. Sie und die Stadt Chemnitz planten seit langem, dem 70. Jahrestag der Zerstörung der Stadt ein Konzert zu widmen. Als ich Frank Beermann von einer Anfrage aus England vom »Three Choirs Festival« erzählte, die ich bekommen hatte für ein Werk für Chor, Soli und Orchester, das im Rahmen des Gedenkens an den Beginn des 1.Weltkriegs aufgeführt werden sollte, sah er sofort die Parallelen. Nicht nur musikalisch, sondern auch geschichtlich. Dass hier die Möglichkeit bestand, Menschen zusammenzubringen, deren Eltern und Großeltern noch verfeindet waren und vielleicht mitgewirkt hatten an der Zerstörung englischer und deutscher Städte. Die bürokratischen und organisatorischen Hürden waren enorm, aber die Uraufführung fand im Juli 2014 in Worcester wie geplant mit Sängern aus Chemnitz statt. Und heute singen in Chemnitz Knaben aus Worcester und Gloucester... Die zweite Antwort: Obwohl ich in Dresden geboren bin und meine Kindheit und Jugend da verbrachte, stammt – wie etwas Nachforschung in der Familiengeschichte ergeben hat – ein Teil meiner Familie tatsächlich aus Chemnitz. Ein Onkel meiner Mutter besaß eine Fabrik in der Stadt, die während des Bombenangriffes 1945 zerstört wurde...
Der Werktitel »A Foreign Field« ist einem Sonett von Rupert Brooke aus dem Jahr 1914 entlehnt. Ein faszinierender Dichter mit einer schillernden Biografie, hierzulande eher unbekannt. Wie haben Sie Ihre Vorlagen ausgewählt?
Es war eine der Vorgaben des Auftrags, Texte der »Dymock Poets« für das Werk zu verwenden. Dymock ist ein kleines Dorf in Wales, eine Art Künstlerkolonie, vielleicht vergleichbar mit Worpswede, in der Dichter lebten oder auf Durchreise waren, kurz vor dem Ausbruch des 1.Weltkriegs. Rupert Brooke gehörte eigentlich nicht zu dieser Gruppe, war aber mit den meisten Mitgliedern bekannt. Zentral unter ihnen ist Edward Thomas. Ein hierzulande ebenso fast unbekannter Dichter, in England allerdings findet man einige seiner Gedichte in Schulbüchern. Ich habe also neben Rupert Brooke vor allem Edward Thomas' Verse verwendet, neben Rilke und Trakl.
Auftragswerke dieser Dimension für große Ensembles sind irgendwie selten geworden, oder täusche ich mich? Wie sind Sie herangegangen, welche Rolle nimmt das Werk in Ihrem kompositorischen Kanon ein?
Ja,das stimmt und hat sicher viel mit dem ungeheuren Aufwand zu tun, den ein Ensemble von 250+ mit sich bringt. Und vielleicht gibt es auch eine gewisse Scheu vor 'aufgeladenen' Symbolen, die ein Oratorium für einen bestimmten Anlass haben kann. Für mich nimmt dieses Werk in meinem Gesamtopus eine zentrale Rolle ein. Ich glaube, es ist direkter und unmittelbarer als andere Werke. Immer mußte ich im Auge behalten, dass ich für – allerdings sehr gute! – Laiensänger schreibe. Der Festivalchorus des »Three Choirs Festivals« besteht ja zum größten Teil aus Laiensängern, ebenso haben wir in Chemnitz neben den Profis des Opernchores und des Dresdner Kammerchores circa 100 Laiensänger aus Chemnitzer Kirchen, der Universität und der Singakademie. Und ich fühlte mich auch auf eigentümliche und doch ganz natürliche Weise an meine Chorzeit erinnert, an die unzähligen Oratorien, die ich als Kruzianer mit aufführen durfte.
Für ein Werk von dieser Länge ist die Form essentiell. Aus verschiedenen Gründen wollte ich kein Requiem schreiben. Eine Art Offenbarung war für mich der Besuch eines Evensongs in der Kathedrale von Gloucester, das Abendgebet der anglikanischen Kirchen. Diese liturgische Form war eine perfekte Vorlage. Mit ihr konnte ich meinem wichtigsten Anliegen gerecht werden: zu einer ganz persönlichen Ebene vordringen, eben eine Geschichte zu erzählen von dem, der weggeht – in den Krieg – und dem, der zurückbleibt.
Wie verlief die Uraufführung - und haben Sie seitdem an dem Werk noch etwas verändert?
Die Uraufführung in der ausverkauften Kathedrale von Worcester war ein großer Erfolg, die BBC hat das Konzert übertragen und es war ein zentraler Bestandteil von '14-18 NOW', einer Organisation, die kulturelle Ereignisse koordiniert beziehungsweise in Auftrag gibt in Zusammenarbeit mit dem Imperial Museum of War. Verändert habe ich nur einige Kleinigkeiten.
Auf Twitter hat "Georg Trakl" auf Ihr Konzert verwiesen. Eine Ehre?
Oh,das kann ich gar nicht beantworten. Kommt darauf an, wieviel 'follower' Herr 'Trakl' hat ;-)
Mit Milko Kersten übernimmt ein Kruzianer Ihres Geburtsjahrgangs kurzfristig die deutsche Erstaufführung...
Frank Beermann war von Anfang an eine der treibenden Kräfte dieses Projektes. Umso größer war der Schock, als er sich letzte Woche krank melden musste und, weil keine Aussicht auf schnelle Besserung bestand, schließlich von den Konzerten zurücktrat. Ich bin sehr traurig darüber, Frank Beermann sicherlich noch viel mehr! Mit Milko Kersten haben wir indes einen Dirigenten gefunden, der sich voll eingebracht hat. Es ist eine Mammutaufgabe, in so kurzer Zeit die Partitur zu lernen. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist, habe aber jetzt nach drei Probentagen gehört, wie das Stück gewachsen ist und wie er es sich zu eigen gemacht hat. Es ist wunderbar, mit welchem Enthusiasmus die Robert-Schumann-Philharmonie und die Chöre auf diese schwierige Situation reagiert haben und mit doppelter Anstrengung gearbeitet haben. Dass ich Milko schon aus dem Kreuzchor kenne und wir gut befreundet sind, macht alles natürlich etwas unkomplizierter.
Der Kreuzchor feiert 2016 ein großes Jubiläum. Dürfen wir auf einen musikalischen Geburtstagsgruß von Ihnen hoffen?
Ja aber gerne! Und so naheliegend... Also, es wird einen Geburtstagsgruß "über Umwege" geben. Ich kann noch nicht deutlicher sein, Entschuldigung... Aber ein direkter Geburtstagsgruß wäre natürlich angebrachter, finde ich.
Ich würde mich freuen! Herzlichen Dank für das Gespräch.