Am 23. März feiert der Dresdner Komponist Wilfried Krätzschmar seinen 75. Geburtstag – und beschenkt das Publikum seinerseits mit der Uraufführung seiner 5. Sinfonie. Im Gespräch mit Martin Morgenstern blickt Krätzschmar für »Musik in Sachsen« auf die Entstehung seiner Sinfonien zurück – und gibt auch einen Ausblick.
Wilfried Krätzschmar, in den Biografien von Dresdner Komponisten, Dirigenten und Sängern steht fast immer der Kreuzchor als musikalischer Ausgangspunkt ihrer späteren Karrieren. Nicht jedoch bei Ihnen ...
Ich erinnere mich, dass meine Eltern meinten, ich wäre in dieser Lebensphase zu sensibel. Ich weiß nicht, wie es mir im Kreuzchor ergangen wäre. Ich habe stattdessen mit acht Jahren erst einmal Klavierunterricht bekommen. Meine Eltern liebten Musik, waren aber keine professionellen Musiker. Sie haben für mich auf Anraten eines Privatlehrers ein Klavier gemietet – und ich war begeistert. Mein Klavierlehrer Gerhard Reimann unterrichtete in Torna, er komponierte auch – so, wie man sich das als Kind vorstellte, mit Federhalter, Notenpapier, Tintenfass. Das Unterrichten war sein Broterwerb, und als ich ihn bat, mich für das Musikstudium vorzubereiten, riet er mir dringend ab. Ich wollte es aber unbedingt, und so hat er mich dann auch gut vorbereitet.
Welche Komponisten haben Sie während des Studiums geprägt? Welche kompositorischen Vorbilder hatten und haben Sie?
Ich wurde Student von Johannes Paul Thilman – aber ich habe mit seiner Musik nichts anfangen können. Wenn er von einem neuen sinfonischen Stück schwärmte, war ich dann meist enttäuscht und wusste nicht, wie ich das ausdrücken sollte. Nein, als Lehrer war Thilman eher anregend durch die Sachen, die er uns zeigte. »Wozzeck«, Boulez, dodekaphonische Werke; er kam an diese Sachen heran, zeigte uns die teilweise verbotenen Dinge; er ließ seine Studenten schreiben und förderte sie.
Vorbilder? – Ernst Hermann Meyer kam zum Beispiel überhaupt nicht in Frage. Das war Doktrin – unter der damals auch Schostakowitsch vermittelt wurde, der wurde also erst einmal mit verachtet! Dann hörte ich Kirill Kondraschin die 4. Sinfonie dirigieren, es war die Erstaufführung in Dresden. Für mich war es, als hätte der Blitz eingeschlagen! Bis heute ist Schostakowitsch für mich einer der ganz Großen. Ja, und die ein bisschen Älteren, Friedrich Goldmann, Georg Katzer, da habe ich neugierig hingeguckt. Bei Matthus eher nicht so – aber das hatte eigene Gründe. Auch Günter Kochan nicht, oder Rudolf Wagner-Régeny. Paul Dessau vielleicht noch! Der war zum Teil interessant: nicht gerade die »Bach-Variationen« (1963) - ein für mich merkwürdig infantiles Stück, aber z.B. »Meer der Stürme« (1967), eine fetzige Orchestermusik, ein toller, moderner Klang. Oder die Oper »Lanzelot«, 1969 uraufgeführt. Das war schon etwas anderes.
Ein Lehrer-Vorbild wurde später Fritz Geißler. Ich bin ja während des Studiums mehrfach angeeckt. Eine Aspirantur hatte zwar zum Greifen nahegelegen, aber die hatte ich mir dann verscherzt durch meine Kompositionen. Als ich zum Studium kam, meinte ich zunächst: jetzt bin ich aus den Konflikten heraus, wie ich sie in der ganzen Schulzeit durch mein nonkonformes Elternhaus ständig erfahren hatte; bei der Kunst wäre das alles ganz anders. Ob es Flausen waren oder nicht: ich hatte ja ursprünglich die Idee, nach Köln zu gehen und Jazzklavier zu studieren. Tanzmusik machte ich ja jede Woche, ich war fit. Und dann kam der Mauerbau, und dann wurde das nix.
Womit eckten Sie kompositorisch an der Dresdner Hochschule an?
Mit meinem ersten Stück an einem Vorspielabend hatte ich sofort die Aufmerksamkeit der Hochschulleitung auf mich gezogen und wurde zum Rat zitiert. Es war ein Stück für Flöte und Klavier, und die Klanglichkeit war nicht so »volksverbunden und optimistisch« wie es von »unseren heranwachsenden Künstlern« erwartet wurde. Beim nächsten Mal hatte ich einen Gedichte von Gottfried Unterdörfer vertont, dieses »Nachtstück« war wieder nicht positiv genug.
Mit einer Aspirantur wurde es also nach dem Studium erst mal nichts.
Da diese Perspektive sich zerschlagen hatte, bin ich für ein Jahr nach Meiningen ans Theater gegangen, wurde mit 24 Jahren Chef der Schauspielmusik. Dort habe ich mindestens soviel gelernt wie in den sechs Jahren Hochschule davor. Ich musste ja alles machen: Schauspielmusik schreiben, auf Band einspielen, Aufführungen leiten, bei Bedarf auch im Orchester Schlagzeug mitspielen. Dann hatte inzwischen die Dresdner Hochschulleitung gewechselt: auf Hans-Georg Uszkoreit folgte Siegfried Köhler, der ein milderes Regime führte. Und Fritz Geißler hatte eine Honorarprofessur bekommen. So wurde eine Aspirantur doch noch aktuell für mich. Geißler war damals ein aufsteigender Stern; zwar Parteigenosse, und er schrieb durchaus nicht gegen die offizielle Linie, aber für DDR-Verhältnisse aufsehenerregend modern. Und er war ein Praktiker, ein Orchesterspezialist. Er schrieb gerade seine 5. Sinfonie, die im neuen Kulturpalast in Dresden uraufgeführt werden sollte.
Wir neigen ja dazu, die Sinfonien als Marksteine der Komponistenkarrieren zu sehen. Sehen Sie sich eher als Kammermusiker, oder ...
Eigentlich vor allem als Sinfoniker! Immer noch! Man stellt sich ja in eine Arena, wenn man über eine Komposition »Sinfonie« schreibt. Und prüft sich an Schostakowitsch, Lutowsławski, Mahler, Karl Amadeus Hartmann ... Es ist ja eigentlich rein äußerlich recht simpel: wer Sinfonie sagt, meint eine größere Dimension. In der zeitlichen Ausdehnung, in der klanglichen. Sinfonie schreibt man nicht für ein Trio, und nicht für drei Minuten Zuhören. Ich habe für eine Entscheidung lange gebraucht. Nach dem Studium traute ich mich über zehn Jahre lang nicht heran, ich hatte Skrupel. Ob Sinfonie noch zeitgemäß ist? Vom klassischen Formschema her jedenfalls nicht – wenn, muss man eigene Lösungen finden. Sinfonie als Metapher: es geht um den großen Gegenstand. Was ein rein musikalischer sein kann, und nicht ausschließlich im Sinne zu vermittelnder Botschaften zu verstehen ist. Und mit der gestalterischen Dimension verbindet sich die der kommunikativen Ebene: die Sinfonie ist nicht für einen kleinen Kreis bestimmt. Um es kurz zu sagen: für mich war das reizvoll, aber ich habe mich schwergetan. Zu beobachten waren zwei extreme Positionen: die eine, die unbedenklich auf Traditionelles setzte, und die andere, die hysterische Kehrseite, »ich schreibe ›Sinfonie‹ drüber, aber ich werfe alles über Bord, das eine Sinfonie ausmacht.« Was sich natürlich ebenso schnell erledigt.
Können Sie den langen kompositorischen Weg zu Ihrem sinfonischen Erstling einmal schildern? Welche Werke entstanden da unterwegs?
Ich wollte mir den sinfonischen Ton gezielt erarbeiten und machte mich dafür im Zusammenwirken mit Musikern bei den Instrumenten kundig. Ich schrieb für Flöte, für Bläserquintett, robbte mich sozusagen an das große Orchester heran. Eine orchesterdramatische Skizze entstand für meine Dirigierprüfung: das Pirnaer Orchester nahm sie zwar nicht ins Programm, aber erteilte mir daraufhin einen Auftrag. Das wurde die »Konzertante Musik für Orchester«, meine erste richtige sinfonische Arbeit, noch ziemlich der Konvention verhaftet. Trotzdem erregte es unheimlichen Krach; es gab nach der Uraufführung Diskussionsveranstaltungen, ob moderne Musik so sein darf. Dann habe ich einen »Hymnus« gemeinsam mit Geißler geschrieben; der ist nie gespielt worden. Heute würde ich sagen: ein bisschen pathetisch, fett im Klang. Da wurde mir dann geraten, mit dem Orchester schlanker, ziselierter, fragiler umzugehen. Und ich schaffte einen stilistischen Sprung. Als Mendelssohn-Stipendiat schrieb ich »Capriccio für Orchester«, das hat Hartmut Haenchen mit der Dresdner Philharmonie uraufgeführt und auf Tournee mitgenommen; ein Elf-Minuten-Stück, das war eine Länge, von der man hoffte, dass sie das Publikum, wenn schon nicht mitvollzog, so doch ertrug.
Das »Capriccio« war für mich der Durchbruch, der Anfang einer eigenen Orchestersprache; das würde ich auch heute noch spielen lassen. Es wurde übrigens 2000 zur Weltausstellung in Hannover aufgeführt: heiter klingt es, aber nicht schmunzelnd, es hat etwas Aggressives, geht den Hörern mit seiner Pointiertheit auch ein bisschen an die Kehle. Dann kam »Dynamik für Orchester«. In dem Stück wird ein struktureller Prozess durchgearbeitet und sozusagen aus einer anfangs unscheinbar changierenden großen Sekunde heraus am Ende der Saal gesprengt.
In dieser ganzen Zeit habe ich die Sinfonie umschlichen. Die Dresdner Philharmonie, regelmäßig Kompositionsaufträge vergebend, musste sich dafür Komponisten suchen; es gehörte in dieser Zeit zur Normalität des Musikbetriebs, gemeinsam neue Stücke anzugehen. Unter der offiziellen Doktrin: »unsere neuen Menschen« müssen »unsere neue Musik« lieben lernen! Die Folge war, dass die Stücke für das Publikum die Aura des Offiziösen besaßen, egal, was der Komponist damit angelegt hatte: Aha, wir sollen wieder beglückt werden!
Ich bin mit meiner ersten Sinfonie gleich voll in den Skandal geraten. Das Stück ist zweisätzig: Vorbereitung und Resultat. Da gibt es Anläufe, disparate Kräfte, die auf ein Resultat zugehen, am Ende wird etwas spürbar, etwas erreicht – wobei ein Resultat auch aus einem Konflikt bestehen kann. Jedenfalls war es ganz einfach gemacht: ein in Eis erstarrter, erster Satz, nach der Pause ein explodierender zweiter, der nicht mehr zur Ruhe kommt bis zur Coda. Das ging den Leuten ins Gebein. Dieter Härtwig saß zu Generalprobe neben mir, Friedbert Streller auf der anderen Seite, und sagten: Machen Sie sich drauf gefasst, heute Abend ist was los. Und so kam es auch.
Ihre zweite Sinfonie wurde dann in Berlin uraufgeführt und ist wahrscheinlich heute die bekannteste, oder? Wie kam es zu dem Titel »Explosionen und Cantus«?
Während der Arbeit an der Ersten blieb ich irgendwie stecken. Der Druck war groß. Ich wurde zur Armee eingezogen, mit 35, mit zwei kleinen Kindern ... Kurz, ich kam mit der Komposition nicht weiter. Wie man es in – schlechten – Filmen sehen kann, habe ich damals bei einem Spaziergang an der Ostsee eine Idee gehabt, bin ins Quartier zurück, hab alles auf einem kleinen Zettelchen notiert. Ich habe nicht mehr viel von diesem Material, aber ich weiß noch, ich hatte mir notiert: EXPLOSIONEN. Bei der ersten Sinfonie sollte ich allerlei Rücksicht nehmen: »Nur dreifaches Holz, kein Klavier bitte ...« usw. Und nun wollte ich mal ein Stück schreiben, ohne auf Bedingungen eingehen zu müssen. Und formal ein Stück ohne Vorhersehbarkeit, wo sich keine Dramaturgie abzeichnet. Das Punktentladungen nach außen sendet in inselartigen Situationen. Solcherart Eingebungen hakten sich fest ... »und Cantus« schrieb ich dann irgendwann, noch ohne Konzept, dazu. Offenbar, weil so ein Cantus-Trend grade im Schwange war.
Die Siebziger waren ja eine Aufbruchszeit. An den Hebeln der Kulturpolitik merkte man, dass die Republik abgehängt sein würde, wenn man nicht die neuen Leute spielen lässt. Friedrich Schenker, Georg Katzer, Reiner Bredemeyer. Ich fing also die Zweite an und bekam eine Anfrage von Günther Herbig. Er hatte das »Capriccio« gehört. »Was machen Sie denn so, Herr Krätzschmar?« Ich erzählte ihm von meinem sinfonischen Plan. Kurz darauf bekam ich vom Berliner Sinfonieorchester einen Brief: wir werden Ihre Zweite im kommenden März aufführen. Das war toll. Ich hatte sechs Hörner besetzt, vierfach Blech, zwei Tuben, vierfaches Holz, Harfe, Klavier, Schlagzeug und große Streicherbesetzung ... Jetzt musste ich das schnellstens schreiben. Einen Sommer lang zwang ich mich in Klausur und habe quasi rund um die Uhr nur dieses Stück gemacht. Der Kopist überlas später, dass es eine C-Partitur ist – da war der Aufführungstermin nicht mehr zu halten. Herbig nahm das Stück als Trost in die nächsten DDR-Musiktage mit – dadurch kriegte ich mit einem Mal ein Podium, wohin ich sonst kaum gelangt wäre. Vier Uraufführungen – Bredemeyer, Ruth Zechlin, Matthus’ Hölderlin-Gesänge mit Theo Adam, und als letzter ich. Und ich habe den Saal gefegt.
In relativ kurzer Zeit habe ich dann die Dritte nachgeschoben. Wieder kam der Auftrag vom Berliner Sinfonieorchester. Drei Konzepte hatten mir ständig vorgeschwebt: Die Erste mit ihrer puren, absoluten Musik, die Zweite mit ihrer Idee der Orchesterklänge, durchzogen von der »Innsbruck, ich muss dich lassen«-Melodie, – eine Paraphrase über das deutsche Volkslied. Und nun die Dritte als polystilistisches Stück.
Dann kam eine Zäsur. Das Thema Sinfonie schien ausgereizt. Andere Projekte wurden wichtig. Die Vierte ist dann mit relativem Abstand aus einer vorher nicht geahnten Situation entstanden, eigentlich aus dem Zeitgeist, aus der Zeitsituation heraus. Das war die Reagan-Zeit. Noch nicht Gorbatschow. Hochrüstungszeit. Spürbar die Bestrebungen hierzulande, die Menschen auf einen militärischen Konflikt einzuschwören. Das öffentliche, geistige Leben wurde immer mehr »durchmilitarisiert«. Das war bedrückend, unerträglich auch in dem penetranten Siegeswillen der Geschichtsüberlegenen. Ich hatte einen Marsch mit kritischem Subtext von Tilo Medek im Hinterkopf, ebenso die »Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen« von Mauricio Kagel – die übrigens musikalisch das nicht einlösen, was der Titel verspricht. Da wollte ich weiter ausholen und zwei große Märsche für Orchester schreiben: einen Triumphmarsch, der mit Pauken und Trompeten in die Katastrophe knattert, und einen Trauermarsch. Dann wurde mir bewusst: das muss mehr werden. Und so wurde es eine Sinfonie, die Vierte. Drei Harfensolostücke baute ich um die Märsche herum. Ein Harfensolo mit Streicherhintergrund, dann der erste Marsch »Geschwind«, dann wieder ein Harfensolo, dann der Trauermarsch »Getragen«, beide Märsche enden in der Katastrophe. Und dann wieder die Harfe. Es hat mich fast geniert wegen der so simplen Anlage. Übrigens heißen die Harfenteile »Canto«! Wieder der Begriff des Singens – eine Metapher für das Menschsein. Das drücken die Canto-Teile unbeirrt von den Märschen aus.
Drei Apfelbäumchen, zwischen die Märsche gepflanzt.
Genau! Der dritte Harfensatz sollte sich dann über einen Echo-Effekt über den Saal ausbreiten. Der Saal sollte von dieser Musik angefüllt sein.
Wie war die Reaktion des Publikums?
Freundlich. In den Fachkreisen bin ich mit der Vierten sehr gut weggekommen. Das tollste Kompliment aber kam von einem Kontrabassisten der Philharmonie, der sagte: »Im Trauermarsch kamen Stellen, da konnte ich fast nicht spielen, so hat mir der Bogen gezittert.«
Danach wandten Sie sich vokalsinfonischen Werken zu, aber Sie wurden auch durch einige neue Ämter vom Komponieren abgelenkt.
Ich wollte nie Ämter haben. Aber dann, im Komponistenverband beispielsweise: Man kommt da rein, und unversehens heißt es, du könntest doch die Arbeitsgruppe junger Komponisten machen! So hat es angefangen. Nach dem DDR-Ende: da gründeten wir an einem Tag vormittags den Sächsischen Musikrat und nachmittags den Sächsischen Komponistenverband. Dann folgte das Amt des Musikhochschulrektors fast automatisch. Ich weiß noch: Hans John, Manfred Weiß und ich, wir sollten die Hochschule in die neue Zeit führen. »Na gut, 14 Tage machen wir das ...« Zwölf Jahren wurde es dann für mich. Da war es mit dem Schreiben natürlich schwierig. Ich habe eine kleine Liste, zehn Stücke wurden es in dieser Zeit. Aber die ganze Zeit dachte ich schon an Nummer fünf. Nachdem ich so viel erlebt hatte, durch so unruhige Gewässer gefahren war, wollte ich ein sinfonisches Stück komponieren, das eine Zusammenschau darstellt. Als ganz und gar persönliche Angelegenheit – aber nicht im Sinne von Privatem, sondern als das Bemühen des Menschen, das Wesen des Daseins zu fassen. Man schaut aufs Ganze. Was es ausmacht, an Konflikten, Begegnungen, an Glücklichem, was bleibt unterm Strich, wie denn eigentlich die Welt geht? Es sollte ein Panorama sein, vierzig, fünfzig, siebzig Minuten. Einen Anfang habe ich wieder verworfen, im Juni 2001 habe ich eine Neufassung konzipiert. Die blieb dann wieder liegen, immer neue Fassungen entstanden. Leider waren mir die Partner abhanden gekommen; es kam niemand mehr und fragte: »Was machen Sie, Herr Krätzschmar?« Vielleicht war ich nicht geschäftstüchtig genug? Jedenfalls war ich nicht in der Reihe derer, die ständig angefragt werden.
Dann kam Ekkehard Klemm Anfang 2017 und sprach mich an. »Was macht eigentlich Ihre Fünfte?« Klemm plante eine Reihe »Komponisten der Region«, gewann Bundes-Fördermittel, das ging richtig gut los, und er sagte mir die Uraufführung zu. Aber nicht mit ganz großem Orchester, und auch nicht 70 Minuten, bitte! Ich machte also ein neues Konzept, aber mit der ursprünglichen Intention. Und irgendwann konnte ich ihm dann Genaueres sagen, Besetzung, Dauer, Konzertrahmen ... Dann habe ich richtig losgelegt, er hatte den Ebert Verlag gewonnen, ich hatte Zeit, ab Februar 2017 habe ich mich in das Stück reingeschmissen. Es war eine glückliche Zeit. Im Oktober 2018 war ich fertig. Und nun dieser große Bahnhof mit Hellerau, der Deutschlandfunk schneidet mit, es gibt Komponistengespräche ... wo ich doch schon wieder an neuen Dingen sitze.
An Nummer sechs gar?
Ja, ich habe eine neue Sinfonie angefangen. Diesmal fragte Peter Gülke mich: »Mal was von Ihnen – was machen Sie denn?« Möge es anhalten, dass die Kräfte und die Gesundheit zur Verfügung stehen! Es brennt mir so auf den Nägeln! Das ganz große Unwohlsein momentan bis hin zur Wut darüber, wie sich Mitmenschen benehmen. Ich muss Ihnen das ja nicht weiter erläutern. Was ist mit unserem Gemeinwesen los? Die Menschen, die ganz lieb waren, bloß endlich mal reisen wollten ... Dann diese Entwicklung, dieses erhabene, tolle Gefühl, als Leute von hier es geschafft hatten, den Zwang und die Lüge abzustreifen ... Wie schnell das verflogen ist und die ganz miesen Unzufriedenheiten wieder hochkommen! Das führt einen wirklich zu merkwürdigen Schlüssen. Wohlstand ist offenbar für Lauterkeit und Rechtschaffenheit wenig zuträglich. Ja, ich muss einfach mit einem neuen Orchesterstück ein zorniges Menetekel loswerden. Warnung. Mahnung. Vielleicht Ermunterung.
Was gärt da musikalisch in Ihnen?
Ich habe drei Texte; den einen fand ich durch Zufall, das ist eine Rede von Häuptling Seattle vor dem amerikanischen Kongress 1855. Das ruft einen regelrecht an: einfache Bilder, die unter die Haut gehen. Menschlein, du bist ein Teil der Erde! Der zweite: Erich Kästner, »Über das Verbrennen von Büchern« von 1958. Das ist wieder – oder immer noch?! – tagesaktuell! »Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist ...« Ein knallharter Text. Und dann noch Günter Eich, die Vorreden aus der Hörspielfolge »Träume«. Eine tolle Lyrik. »Alles, was geschieht, geht dich an!« Das treibt mich um. Ich hausiere damit auch schon bei der Dramaturgie der Dresdner Philharmonie. Mal sehen ...
Die paradiesischen Zustände für Komponisten, die Sie vorhin schilderten – dass etwa die Philharmonie regelmäßig neue Werke von Dresdner Kollegen aufführte – die sind inzwischen vorbei. Warum eigentlich? Sind die Programmplaner zu ängstlich geworden?
Sie nehmen die zeitgenössische Kunst einfach nicht mehr angemessen wahr. Die dafür Interessierten gibt es ja noch! Ach, manchmal habe ich gehadert mit dem Dresdner Bildungsbürgertum, das hat ja auch seine Problematik. Aber immerhin ein Publikum. Und Bildung. Jetzt müssten sie sich doch eigentlich beschweren: Liebe Philharmonie, liebe Staatskapelle, liebe XYZ! Wo sind denn unsere Komponisten geblieben? Streiken die etwa alle? Oder was ist hier los? – Das Tragische ist: Ich weiß, wieviel tolle Musik von jetzt und hier es gibt. Zum Beispiel, was immer neu bei den Studenten hervorgebracht wird. Das müssten viel mehr Leute hören! Die großen Festivals sind eher zu Feigenblattveranstaltungen geworden. Man sagt: ihr habt doch Hellerau, die »Tonlagen«. Was noch? Aber das ist, bei allem Verdienst dort, einfach zu wenig. Die aktuelle Kunst gehört in den aktuellen Alltag.
Wie könnte man die Situation ändern?
Aus dem Glashaus heraus rufe ich: Mut haben. Wenn man es macht, geht es! Ich habe einst mit Olivier von Winterstein [Intendant der Dresdner Philharmonie 1992–2004, d.R.] angeschoben, dass die Philharmonie Kompositionen von Studenten durchspielt. Vormittags Proben, nachmittags Werkstattkonzert für die Dresdner. Wir haben damals Schulen angesprochen, die Kompositionsstudenten haben im Vorfeld Schulklassen besucht. In der vierten Klasse die jüngsten Hörer, die Abiturienten vom Benno-Gymnasium mit anderen Fragestellungen, im Berufsgymnasium in Freital wieder andere Gesprächsthemen ... Aber überall hat es von selber funktioniert. Erfrischend. Ermunternd. Man muss einfach über seinen Schatten springen!
Vielen Dank für das Gespräch.