Man mag es kaum glauben: fünfzig Jahre ist es her, dass Peter Rösel einen Preis beim renommierten Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb einheimsen konnte; er war damals der erste deutsche Preisträger überhaupt. In den letzten Jahren hat der Pianist selbst weltweit in mehreren Jurys gesessen – und fragt sich: wissen die heutigen Bewerber überhaupt, dass Klavier spielen und Musik machen zwei verschiedene Dinge sind?
Peter Rösel, es ist jetzt fünfzig Jahre her, dass Sie beim Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb einen Preis gewonnen haben. Ich möchte gern mit Ihnen über Pianistenkarrieren heute und damals reden, über Wettbewerbe, und überhaupt erst mal darüber: woran können Sie sich aus diesem Wettbewerbsjahrgang 1966 noch erinnern? Mit welchen Erwartungen sind Sie damals eigentlich gestartet?
Ich bin ja jemand, der mehr zu Selbstzweifeln neigt als zur Siegesgewissheit. Und eigentlich wollte ich damals gar nicht teilnehmen. Aber da ich gerade in Moskau studierte, habe ich die Vorbereitungen zu diesem Großereignis mitbekommen – und auch den sogenannten Allunionswettbewerb, der dem Tschaikowski-Wettbewerb vorausging. Nachdem acht Jahre vorher der amerikanische Pianist Van Cliburn sämtliche russischen Konkurrenten ausgestochen hatte, war es ein ungeschriebenes Gesetz, von dem ich übrigens nicht weiß, ob es heute noch besteht: »Die Schande von 1958 darf sich nicht wiederholen!«
Dem Wettbewerb ging also der Allunionswettbewerb voraus. Die ersten drei Allunions-Preisträger durften am Tschaikowski-Wettbewerb teilnehmen. Ich hatte damals rumgehorcht, und als diese ersten drei bekanntgemacht wurden, dachte ich mir: verdammt, so viel schlechter bist du auch nicht! Du könntest es ja mal versuchen... Zwölf Pianisten werden in die Endrunde kommen – bis dahin könntest du es vielleicht schaffen? Ich machte also mit.
Was sagte Ihr damaliger Lehrer Dmitri Baschkirow zu Ihren Plänen?
Bei Baschkirow war ich im zweiten Studienjahr. Ich hatte das Gefühl, er war nach zwei Jahren richtig »auserzählt«. Seine Anweisungen beschränkten sich bald auf: spiel das doch mal so, wie ich das machen würde. Da sagte ich mir: das ist weitere drei Jahre lang nicht sinnvoll. In dem Frühjahr verbreitete sich zudem das Gerücht, dass Lew Oborin einen dritten Assistenten bekommen würde - Boris Zemlansky, der schon höchst erfolgreich Vladimir Ashkenazy unterrichtet hatte und dem man wahre Wunderdinge nachsagte. Die Chance wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen und suchte den Wechsel. Baschkirow kam dahinter und machte mir eine fürchterliche Szene. Seitdem war ich für ihn gestorben, und bin es bis heute. Nun – die letzten Wochen vor dem Wettbewerb war ich mehr oder weniger ohne Mentor. Ich habe das aber durchgezogen und bin ohne Aufregung angetreten.
Heute werden Sie ja selbst oft genug als Juror angefragt. Wie aber lief 1966 die Jurierung eigentlich ab, lässt sich das mit den heutigen Wertungsrunden noch vergleichen?
Wenn ich das mit den Jurys vergleiche, in denen ich Mitglied bin oder war, also in Genf, Maryland, Brüssel oder Sendai, dann gibt es dort in der Regel ein Punktesystem: Das Vorspiel des letzten Kandidaten ist meist gegen 22 Uhr zu Ende, dann wird ausgezählt und das Ergebnis verkündet. In Moskau war das dagegen ein merkwürdiger Prozess. Die ersten beiden Wettbewerbsrunden waren bepunktet worden, aber dann beim Finale wurde diskutiert, mit offenem Ergebnis. Früh, gegen halb sechs, wurde der Gewinner verkündet: der sechzehnjährige Grigori Sokolow! Der Buschfunk behauptete, der Juryvorsitzende Emil Gilels habe sehr viel Zeit darauf verwandt, die zweifelnden Anwesenden zu überzeugen, dass Sokolow gewinnen müsste und nicht der Juilliard-Student Misha Dichter.
Das bringt uns auf ein kitzliges Thema bei solchen Wettbewerben: man ist eigentlich nie ganz sicher, ob bei den Bewertungen Günstlingswirtschaft eine Rolle spielt. Allzuoft kommt es vor, dass Schüler von Jurymitgliedern das Rennen machen. Auch wenn Juroren natürlich nicht für ihre eigenen Studenten voten – kann man sich als Jurymitglied ganz frei machen von solchen Dingen?
Sie haben recht, bei den meisten Wettbewerben ist es so, dass man bei eigenen Studenten und überhaupt allen, mit denen man die letzten fünf Jahre pädagogisch zu tun hatte, nicht punktet. Das halte ich auch für fair. Es gibt allerdings immer noch die Gefahr, dass einen die Co-Juroren unterschwellig beeinflussen. Ich kann das nicht ausschließen, ja. Man kann da noch folgendes machen: die Bepunktung innerhalb der Jury könnte öffentlich gemacht werden. Jede integre Wettbewerbsleitung macht sich Gedanken über solche Fragen.
Ich lege gleich noch einmal mit einem oft zitierten Kritikpunkt nach: dass nämlich bei Wettbewerben immer nur diejenigen gewinnen, die keinen Juror direkt mit einer ausgefallenen Interpretation »verschrecken«, sozusagen künstlerisch einfach den kleinsten gemeinsamen Nenner liefern.
Der Königin-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel bittet seine Juroren, dass musikalisch interessante Pianisten mit Liebe behandelt werden sollen – nicht unbedingt solche, die korrekt und fehlerfrei spielen. Trotzdem ist es eben so: in der Musikwelt hat sich ein allgemeiner Konsens entwickelt, wie ein Stück interpretiert werden sollte. Jemand, der davon grob abweicht, wird es in einem Wettbewerb schwer haben. Das ist auch meine Wahrnehmung. »Individuell« bedeutet manchmal ja auch, ein Werk zu verschandeln. In Brüssel trat mal ein junger Russe an und spielte »Petruschka«, aber fürchterlich gepfuscht und nur mit der Hälfte der Noten. Das geht natürlich nicht. Ich würde sagen: gefragt ist eine eigenständige jugendlich-frische Interpretation, die das Werk aber nicht beschädigt. Ein solcher Pianist hat es bei mir und vielen meiner Kollegen leichter.
Wie bereite ich mich denn am besten auf einen wichtigen Wettbewerb vor, sagen wir mal, auf den Schumann-Wettbewerb in Zwickau?
Die simpelste Weisheit: wenn man zu Schumann keine richtige Affinität hat, braucht man es gar nicht erst zu versuchen. Man muss ein romantisch veranlagtes Gemüt sein. Bei einem Werk von Robert Schumann ist eine deutlich weitere Auslegung denkbar als beispielsweise bei einer Beethoven-Sonate. Wie viel Rubato verträgt ein Stück? Welche Klangfarben sollte man reinbringen? Dieses Abwägen ist bei Schumann viel aufregender als bei Bach. Also, ja, wenn sich jemand hingezogen fühlt zu dieser Musik und technisch einigermaßen versiert ist – Schumann ist ja, von einigen Ausnahmen abgesehen, kein Komponist von exorbitanten Schwierigkeiten -, der soll es versuchen. Wer klangliche Fantasie mitbringt, ein Gespür für das Subjektive der Musik – der hat Chancen.
Wie wird man als Juror der vielen Bewerbungen eigentlich Herr, beziehungsweise: wie verschaffen Sie sich ein Bild vom Teilnehmerfeld?
Bei vielen Wettbewerben muss vorher ein Video einer Interpretation eingeschickt werden. Für die Juroren ist das eine anstrengende Geschichte. In Brüssel hatten wir 240 Videos anzusehen... und die waren in höchst unterschiedlicher klanglicher und aufnahmetechnischer Qualität. Bei einigen konnte man nur vermuten, was sich da abspielte; andere sendeten Bänder in Studioqualität. Man sortiert relativ schnell, manche hört man sich auch etwas länger an. Und dann werden die ersten fünfzig zum Wettbewerb angenommen. Das bietet eine gewisse Übersicht, die den Juroren zu einem einigermaßen berechtigten Urteil verhilft.
Ja, das wäre jetzt eine weitere interessante Erörterung – wie es die Juroren schaffen, die besten Talente in einem engen Teilnehmerfeld zu filtern – oder andersherum, wie zuverlässig sich Karrieren an renommierte Preise anschließen. Nehmen wir doch nur die Namen der Tschaikowski-Gewinner der letzten Jahrzehnte. Ogdon. John Lill. Gavrilov. Pletnev. Berezovsky. Matsuev. Trifonow... Und jetzt die der Drittplatzierten: Shtarkman. Virsaladze. Eresko. Lima. Ryvkin. Koyama. Kenner. Mordasov. Tszin.
Ein Wettbewerb ist ein Filter. Aber, mal offen und ehrlich gesprochen, die Situation hat sich inflationär entwickelt. Es gibt viele junge Pianisten, zugegeben, aber auch VIEL mehr Wettbewerbe als früher. Vor fünfzig Jahren war ein erster Preis in Brüssel oder Moskau die Eintrittskarte zur großen Musikwelt. Das ist heute nicht mehr so. Severin von Eckardstein zum Beispiel gewann 2003 den Königin-Elisabeth-Wettbewerb. Hätten Sie das auf Anhieb gewusst? Auch die jüngeren Preisträger von Chopin oder Tschaikowski zaubert man nicht mal eben aus dem Hinterkopf. Man wird nicht mehr als Sieger eines Wettbewerbes automatisch von allen und jedem eingeladen. Deswegen sind diejenigen Wettbewerbe begehrt, die neben dem Preisgeld auch eine größere Anzahl an Konzerten versprechen.
Auf der anderen Seite führt das zu Auswüchsen, die erschreckend sind. Es hat sich ein richtiger Wettbewerbstourismus entwickelt. Als ich 1988 von der Wettbewerbsleitung in Montreal angefragt wurde, ob ich nicht in die Jury kommen würde, habe ich gern ja gesagt: drei Wochen Montreal, für einen DDR-Bürger nicht unattraktiv. Dort gab es einen Bewerber aus Frankreich, der die magische Altersschwelle schon fast erreicht hatte, und von dem mir ein Kollege sagte: 61 Wettbewerbe hat der schon mitgemacht...
Sind Wettbewerbe heute noch das Mittel der Wahl, um eine Karriere zu zünden – oder gibt es andere erfolgreiche Wege, wie sich Pianisten clever vermarkten können?
Nehmen wir den Fall Valentina Lisitsa. Sie ist dahingehend ja ein einmaliges Phä-nomen. Diese Frau hat zwanzig Jahre lang mehr oder minder unbeachtet Klavier gespielt – und der große Durchbruch kam nicht. Dann hat sie vor zehn Jahren einige Aufnahmen ins Internet gestellt, und plötzlich funktionierte es. Die schwächelnde Klassikbranche führt dazu, dass Agenten dankbar nach Leuten gucken, die schon eine Aufnahme gemacht haben, die das Label nichts kostet; und die einigermaßen aussehen, als wären sie verkäuflich. Nach dem Motto: gut, wir schmeißen das jetzt mal auf den Markt, und wenn es ein Flop wird, kommt der Nächste.
Die sicherste Möglichkeit, Karriere zu machen, ist, einem Musikpapst in die Arme zu laufen, und gefördert zu werden. Anne-Sophie Mutter ist das schönste Beispiel: ich habe beobachtet, wie bei den Salzburger Festspielen 1980 jeder Journalist nach dem Konzert im Pressezentrum die neue Platte von ihr mit Karajan in die Hand gedrückt bekam. Damals galt das Wort eines Moguls wie Karajan noch sehr viel. Und solche »Päpste« trifft man natürlich auch auf Wettbewerben. Die jungen Leute hoffen, mit Glück einen Preis zu gewinnen, aber idealerweise noch jemanden zu treffen, der ihnen weiterhelfen kann.
Geben Sie uns doch einmal einen Geheimtipp, wessen vielleicht eher ungewöhnliche Interpretationen wir uns unbedingt mal anhören sollten.
2010 habe ich ich in Brüssel einen Pianisten gehört, den ich wirklich interessant fand und der auch einen zweiten Preis bekam. Ein Bulgare: Jewgeni Bozhanow. Seitdem habe ich von seiner Karriere nicht mehr viel gehört. Bozhanow machte mit einigen originellen Ideen auf sich aufmerksam, ohne die Stücke zu beschädigen. Klavier spielen und Musik machen sind ja zwei verschiedene Dinge – die meisten Pianisten wissen das gar nicht! Sie üben nach sportwissenschaftlichen Methoden. Etwa dieser Chinese, den ich bei einem Wettbewerb in Sendai hörte. Er spielte die schnellsten Oktaven der Weltgeschichte ...
Und welche interessanten Talente kommen aus Deutschland?
Es ist ja an den Hochschulen kaum noch ein deutscher Pianist zu finden. Ich bin nun schon seit ein paar Jahren nicht mehr im Betrieb, aber: in den letzten drei, vier Jahren hatte ich keinen einzigen deutschen Schüler mehr. Ich verstehe es so, dass die meisten deutschen Klavierschüler nicht willens sind, sich wirklich zu schinden. Deswegen werden willig die sich so zahlreich bewerbenden Ausländer genommen. Eine Hochschule beweist ihre Legitimation ja mit der Auslastung ihrer Kapazität. Wenn Sie in einer Aufnahmeprüfung sitzen und 120 Bewerber hören, da sind dann vielleicht vier Deutsche dabei...
Müssen wir in Deutschland früher anfangen, Talente vorzubereiten? Härter arbeiten? Bessere Karrieremöglichkeiten schaffen?
Ich betreibe keine Ursachenforschung. Zwei Dinge erscheinen mir aber wesentlich: das eine ist ein allgemeines Erziehungsprinzip. »Wenn mein Kind das will, wird das gemacht. Und wenn nicht, dann muss es das nicht machen.« Ein Instrument zu lernen, macht vielleicht die ersten Wochen Spaß, da gibt es relativ schnell Fortschritte. Dann verliert das Kind die Lust – und die Eltern haben nicht die Kraft, gegen das unwillige Kind anzukämpfen. Und zweitens hat es sich in der Bevölkerung herumgesprochen, wie die Chancen auf dem ›Arbeitsmarkt‹ sind. Ein anderer Instrumentalist kann ja immer noch Kammermusik machen, aber ein Pianist? Und selbst mit einer Stelle schlägt der gesellschaftliche Faktor zu: der Grad öffentlicher Anerkennung ist miserabel. Und ob ich Mitglied der Sächsischen Staatskapelle bin oder zweiter Geiger in Altenburg, ist zudem ein Riesenunterschied. Deswegen gehöre ich zu den Lehrern, die sagen: Junge, wenn du absolut sicher bist, dass du vor Kummer stirbst, wenn du nicht Klavier spielen kannst, dann mach es in Gottes Namen. Sobald aber der leiseste Zweifel auftaucht, du könntest auch Bankangestellter werden – dann geh lieber zur Bank. Ich will damit nicht sagen, früher sei alles besser gewesen. Aber die Chancen sind schwierig einzuschätzen. Und so wie ich als Lehrer niemandem bedingungslos zureden würde, denken viele Eltern, die sich mit der Zukunft ihrer Kinder befassen. Allerdings: ein echtes Talent brennt auch im Kindesalter und wird sich kaum abhalten lassen.
Wenn wir noch einmal auf Ihre eigene pianistische Karriere blicken, so steht man etwas perplex vor der Tatsache, dass Sie in den USA, in Japan und Taiwan vor riesigen Sälen spielen. Und Ihr erstes Konzert dieses Jahr hier in Deutschland findet im Ratssaal in Halberstadt statt. Wie erklärt sich so etwas?
Wahrscheinlich bin ich einfach kapitalismus-ungeeignet. Ich gehe nicht hausieren. Wenn jemand etwas von mir will, freue ich mich; wenn nicht, lässt er's bleiben. In einer Zeit, wo jeder schreit, 'I am the greatest', gerät man da rasch in Vergessenheit. Immerhin habe ich vierzig Jahre lang von 1968 bis 2008 über fünfzig Konzerte mit der Staatskapelle gespielt, und bei der Philharmonie waren es noch mehr. In den letzten Jahren haben dann eben neue Leitungen andere Richtungen vorgegeben.
Würden Sie denn ›zu Hause‹ auch gern mal wieder etwas öfter spielen?
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: ich habe mich über die Einladungen zu den beiden Dresdner Orchestern immer sehr gefreut und die Engagements dankbar angenommen. Aber eigentlich bin ich ein Mensch ohne größere Ehrgeize. In den letzten Jahren habe ich in Fernost viele Konzerte gegeben und für den japanischen Markt zwanzig CDs produziert. Im März 2016 gerade die jüngsten beiden. Dort schätzt man mich, und da bin ich auch jedes Jahr. Als ich gerade jetzt beim NHK Orchester in Tokio war, der Nummer eins des Landes, kam eine Offerte der Dresdner Philharmonie. Das freut mich natürlich. Wenn darüber hinaus weitere Einladungen aus Sachsen kommen – umso besser! Aber sehen Sie, da wachsen doch überall die jungen Leute nach, die auch mal spielen wollen. Hier, nehmen Sie mal die CD von Nozomu Takahashi mit. Ein ehemaliger Student von mir mit großartigen Goldberg-Variationen. Hören Sie mal rein!
Interview: Martin Morgenstern