Allgemein |

Bleib bei uns, denn es will Abend werden

»In dieser letzt’n betrübten Zeit / Verleih uns, Herr, Beständigkeit.« Der Leipziger Oberbürgermeister gab heute bekannt: Der siebzehnte Thomaskantor nach Johann Sebastian Bach ist – Trommelwirbel, weißer Rauch – Moment, äh, also jedenfalls ... Wir müssen da noch mal ...

Die heute bekanntgewordene Entscheidung der Stadt Leipzig, das Auswahlverfahren zur Benennung eines neuen Thomaskantors schlicht »zu beenden«, wie es die Pressemeldung der Stadt formuliert, lässt die Motivation der Findungskommission in einem seltsamen Licht erscheinen. Da hatte man aus einem ausreichend großen Bewerberkreis also vier vielversprechende Kandidaten ausgewählt, die über Monate mit dem Chor arbeiteten, Werke einstudierten, zuletzt in persönliche Gespräche mit dem Oberbürgermeister geladen wurden – und nun wurde keiner der viere benannt, sondern der altgediente kommissarisch amtierende Gotthold Schwarz berufen. Obwohl Schwarz, der bald Vierundsechzigjährige, sich gar nicht mehr auf das renommierte Amt beworben hatte. Viele Jahre lang stand er Gewehr bei Fuß, wenn Chorleiter Georg Christoph Biller ausfiel. 1992, 1999, 2002, 2003, 2011 und zuletzt zum Bachfest 2014 leitete er den Chor über kürzere oder längere Zeiträume interimistisch, stets besonnen und verlässlich. Schwarz tut dem Chor gut, er kennt die Jungs, er ist die sichere Bank. Eine schlechte Wahl ist er definitiv nicht.

Es bleibt aber die Frage, warum die vierzehnköpfige Kommission nicht in der Lage war, eine bessere Wahl zu treffen. Und warum das ziemlich intransparente Verfahren, bei dem beispielsweise die gescheiterten Kandidaten nicht in Erfahrung bringen konnten, was sie hätten besser machen können, so schmählich scheiterte. War die Bewerberrunde insgesamt nicht groß genug? War vielleicht ein in Leipzig heimlich erhoffter Name nicht unter denen, die ihren Hut in den Ring warfen? Haben die Vertreter des Gewandhausorchesters vielleicht ihr entschiedenes Veto gegen die beiden verbliebenen Kandidaten eingelegt? Oder, auch das ist nicht auszuschließen, kristallisierte sich irgendwann im Laufe des Auswahlverfahrens ein neuer Topkandidat heraus, der es aus irgendeinem Grund nicht in die Runde der letzten Vier geschafft hat? Der nun vielleicht bei einer erneuten Ausschreibung wie ein Überraschungskaninchen aus dem Hut gezogen wird? Im Sinne einer musikalischen »Erbfolgeregelung« wäre zum Beispiel denkbar, dass Billers Assistent Titus Heidemann in den nächsten Jahren neben Schwarz als neuer Chorleiter behutsam aufgebaut wird, in Ruhe weiter Erfahrungen sammelt. Die schlechteste Lösung wäre das nicht. Aber all das muss erst einmal Spekulation bleiben, und ist momentan auch nicht das Wichtigste. Wichtig wäre, dass die Findungskommission noch einmal intern auswertet und hoffentlich dann auch öffentlich erklärt, wie die letzten Wochen verlaufen sind, und woran das Verfahren letztendlich scheiterte. Ansonsten wäre nicht nur sie, die Kommission, sondern auch die Namen der beiden letzten Kandidaten nachhaltig beschädigt.

»In dieser letzt’n betrübten Zeit / Verleih uns, Herr, Beständigkeit.« So wird der Leipziger Stadtrat nun sicherlich erst einmal entscheiden. Und dann sehen wir weiter.

Martin Morgenstern

 

Werbung