Seit Anfang des Jahres hat die Musikabteilung der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek eine neue Leiterin. Barbara Wiermann verwaltet nun unter anderem die Bestände der ehemaligen königlich-sächsischen Musikaliensammlungen. Aron Koban sprach mit ihr über die Aufgaben und kommende Projekte – und über die Preziosen der ihr anvertrauten Sammlung.
Barbara Wiermann, Sie sind seit Anfang 2015 Leiterin der Musikabteilung in der SLUB. Vorher waren Sie Leiterin der Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Was macht die Musikabteilung der SLUB für eine neue Leiterin attraktiv?
Die Musikabteilung der SLUB hat ein umfassendes Aufgabenfeld. Als besonders reizvoll empfinde ich die Schnittstelle zwischen einem großen, herausragenden historischen Musikbestand und den digitalen Herausforderungen der heutigen Zeit. Mich hat es schon immer interessiert, diese beiden Dinge, das alte Material und die neuen Technologien, zusammenzubringen. Dabei möchte ich zum einen möglichst nah an der Forschung arbeiten, zum anderen natürlich auch die Musikpraxis unterstützen.
Ist die neue Position mit den neuen Aufgaben für Sie eine Umstellung?
Es gibt doch große Unterschiede zwischen den beiden Aufgabenbereichen: Die Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig hat die Funktion, die 800 bis 900 Musikstudierenden und die Lehrenden im Alltag zu versorgen, Noten und moderne Literatur zur Verfügung zu stellen, die in der Lehre, Forschung und Musikpraxis benötigt werden. Der historische Bestand der Leipziger Bibliothek ist exquisit, aber überschaubar. In der SLUB dagegen ist die Musikabteilung ein Teil eines großen wissenschaftlichen Apparates, der neben der Versorgung der Studierenden der TU Dresden auch zahlreiche koordinierende Aufgaben für das Land und im nationalen Bereich zu erfüllen hat.
Worin sehen Sie die wichtigsten Aufgaben der Musikabteilung?
Zum einen haben wir eine Verantwortung für den historischen Bestand, den es zu erhalten, zu pflegen und, soweit das möglich ist, stellenweise zu ergänzen gilt. Dazu gehören nicht nur Handschriften und alte Drucke, sondern auch der Bereich der historischen Tonträger. Zugleich haben wir die Aufgabe, diese Materialien mit möglichst optimalen Rahmenbedingungen vor Ort oder durch die Überführung ins digitale Medium den Wissenschaftlern und Musikern zur Nutzung bereitzustellen. Daneben gibt es natürlich das Alltagsgeschäft: die Versorgung mit aktuellen Musikalien und aktueller wissenschaftlicher Literatur.
Wie sieht die Zusammenarbeit einer Musikabteilung mit der Forschung aus?
Sie beginnt bei der Erschließung der Bestände durch Wissenschaftler, die auch schon in früheren Zeiten Spezialkataloge angefertigt haben und selbstverständlich waren die Bestände stets der Ausgangspunkt für unterschiedlichste Forschungsfragen. Heute führt die Digitalisierung der Bestände ein Stück weiter: Im Rahmen verschiedener von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Digitalisierungsprojekten erfassen wir Handschriften detailliert im Internationalen Quellenlexikon der Musik (RISM).
Viele Werke aus früheren Jahrhunderten gelten als verschollen. Gibt es in der Musikabteilung noch uninventarisierte Stücke und damit vielleicht als verschollen geltende Werke? Woher weiß man, was man alles hat? Sitzt man vielleicht noch auf ungehobenen Schätzen?
Ja und nein: Uninventarisierte Stücke gibt es in diesem Sinne nicht. Aber nicht erkannte oder verkannte Stücke gibt es immer wieder. Unter den Handschriften existieren viele, denen kein Name zugeordnet werden konnte. Dann gibt es den schwer einzuschätzenden Bereich der Fehlzuschreibungen. In einer Zeit, in der Noten immer wieder abgeschrieben werden, im 17. und 18. Jahrhundert beispielsweise, kommt schnell einmal ein falscher Name über ein Stück. In den letzten Jahren konnten mehrere Werke als Schöpfungen Vivaldis identifiziert werden, die vorher vollkommen unbekannt waren und als Anonyma galten. Die Wissenschaftler, die das herausgefunden haben, haben durch die systematische Nutzung des Online-Katalogs Zusammenhänge erkennen können, die früher nicht oder wenigstens nicht so schnell erkannt werden konnten. Mit der richtigen systematischen Einstiegsfrage – und darin liegt die intellektuelle Herausforderung für den Wissenschaftler – kann der Katalog schneller als früher zu solchen Ergebnissen verhelfen.
Der Maya-Kodex ist das berühmteste Buch der SLUB. Gibt es ähnlich bedeutsame Stücke auch in der Musikaliensammlung?
Diese Einschätzung bleibt natürlich immer subjektiv. Wenn ich aus meinen eigenen Forschungsschwerpunkten aber auch musikalischen Vorlieben heraus antworte, dann sind es die Stimmen zur h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach, genauer nur Kyrie und Gloria, die sogenannte „Missa“, die der Leipziger Thomaskantor 1733 Friedrich August II. übergeben hat, in der Hoffnung, dafür einen Hoftitel zu bekommen. Dieser Wunsch erfüllte sich dann auch 1736 mit dem Titel des „Hof-Compositeurs“. Es ist ein sehr interessantes Stimmenmaterial, das der Komponist zum Teil selbst geschrieben hat, und das zum Teil von seiner Familie, also seiner Frau Anna Magdalena und seinen ältesten Söhnen Wilhelm Friedemann und Carl Philipp Emanuel, verfertigt wurde. Das ist einer von vielen kulturhistorisch aufschlussreichen Aspekten einer solch herausragenden Notenhandschrift. Das Stück selbst ist ein bedeutendes Werk. Es kommt dazu, dass ich einige Zeit im Bach-Archiv Leipzig gearbeitet habe – damit habe ich schon eine sehr persönliche Verbindung zu Bach.
Außerdem besitzen wir eine herausragende Vivaldi-Sammlung im Haus, die die Beziehungen des sächsischen Hofes nach Italien spiegeln. Und wir verfügen über die Dokumente der Dresdner Wagnerpflege – vielleicht würde jemand anders sagen, dass für ihn das Autograph des „Liebesmahls der Apostel“ oder die Uraufführungsstimmen zum „Tannhäuser“ die größten Schätze der Musikabteilung sind.
Jede Benutzung ist zugleich auch eine Abnutzung. Was ist für Sie wichtiger: die kostbaren Bestände zu schützen oder die Benutzerfreundlichkeit der SLUB zu verbessern und den Zugang zu den Beständen zu erleichtern? Oder lässt sich dieses Dilemma ganz einfach mit Hilfe der Digitalisierung lösen?
Hier vollziehen wir immer eine Gratwanderung. Bis heute haben wir verheerende aus dem Zweiten Weltkrieg herrührende Schäden an den Beständen, die eine Benutzung schwierig machen. Um es zu veranschaulichen: Wenn beim Blättern einer Handschrift die untere Hälfte eines Blattes einfach wegbröselt, dann kann solches Material nicht für die Benutzung zur Verfügung gestellt werden. Das ist bedauerlich, aber leider die Realität, die unsere Arbeit seit 70 Jahren mitprägt. Wenn es aber Gründe gibt, warum das Digitalisat oder der Mikrofilm nicht ausreichen, werden die Bibliothekare versuchen, die Nutzung des Originals möglich zu machen. Das machen andere große Sammlungen in Berlin und München nicht anders.
Welche Großprojekte gibt es in nächster Zeit für die Musikabteilung?
Nach drei Monaten im Amt ist das schwierig zu sagen. Großprojekte brauchen Zeit. Wir sind dabei, die sächsische Hofkirchenmusik und die königliche Privatmusikaliensammlung zu digitalisieren – damit sind zwei Großbestände der Dresdner höfischen Musikpflege in Arbeit. Wir denken daran, den Bereich der höfischen Musikpflege weiterzuverfolgen, gegebenenfalls über Dresden hinaus, um die vergleichende Hofmusikmusikforschung weiter zu befördern.
Was ist denn so neu an der vergleichenden Hofmusikforschung?
„Hofmusik“ ist ein Forschungsgebiet, das lange Zeit in den Kontext der Lokalforschung gestellt und daher etwas abfällig betrachtet wurde. Versteht man aber Musikwissenschaft als Kulturwissenschaft, dann fragt man nach der Stellung der Musik für gesellschaftliches Handeln, zum Beispiel auch machtpolitische Fragen. Die Forschung zur Hofmusik verliert dann den Zug des „Heimatpflegerischen“.
Wo sind andere Großbaustellen?
In einem Projekt sind wir mit Normdaten, Formaten, und Standardisierungsfragen beschäftigt, die für den internationalen Datenaustausch von großer Bedeutung sind. Außerdem haben wir mit dem „Archiv der Stimmen“ vor kurzem ein Projekt abgeschlossen, das sich exemplarisch der Digitalisierung von Schellackplatten widmete. Das möchten wir gerne weiter ausbauen.
Inwieweit ist das Audiomaterial auf alten Trägern wie Schellackplatten denn gefährdet?
Die Schellackplatten sind zwar relativ robust, was aber zunehmend fehlt, sind die passenden Abspielgeräte und das Wissen, wie sie richtig bedient werden, mit welcher Umdrehungsgeschwindigkeit die Platten abzuspielen sind usw. Entgegenkommt uns bei dem begrenzten Bereich der Schellackplatten, dass die Urheberrechtsfragen keine Rolle mehr spielen. Die Bereitstellung von Aufnahmen aus jüngeren Zeiten ist im open access schwierig bzw. geradezu unmöglich.
Im Januar 2015 hat die SLUB verlauten lassen, dass sie ihre digitalisierten Bestände unter Creative-commons-Lizenzen frei zur Verfügung stellen will. Heißt das, dass jetzt jeder z.B. in der SLUB gefundene Noten kostenlos verlegen kann?
Die Digitalisate der SLUB, die unter der CC-BY-SA 4.0 lizensiert sind, können in der Tat frei genutzt werden, auch für kommerzielle Projekte. Wir sind einfach daran interessiert, dass mit unseren digitalisierten Daten so viel wie möglich gemacht und möglichst kreativ umgegangen wird.